77. Meraner Lyrikpreis

In einem anderen Fall traute die Jury ihrem Lob für Matthias Göritz nicht, der es als einziger Autor gewagt hatte, aus der mitunter ängstlichen Traditionsergebenheit seiner Kollegen herauszutreten und eine Poetik der Offenheit und des fragmentarischen Subjektivität zu realisieren. Göritz´ Mut, sich wie sein Vorbild, der radikale Formzertrümmerer Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975), auf poetisch noch unvermessenes Gelände zu wagen, „aus der (lyrischen) Sprache und den Festlegungen raus“, wurde nicht honoriert – denn die Preise gingen an die Favoriten. Die Dichterin Silke Scheuermann, die seit ihrem 2001 veröffentlichten Debütband „Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen“ einen phänomenalen Siegeszug durch die Lyrik-Szene angetreten hat,  erhielt etwas überraschend „nur“ den kleinen Förderpreis der Kurverwaltung Meran (2100 Euro). Eine „ausserordentliche Imaginationsbegabung“ (Juror Kurt Drawert), eine verblüffende Raffinesse bei der Anverwandlung mythologischer Figuren (Medusa, Arachne, usf,) hat man Silke Scheuermann zwar zugestanden – aber das Balancieren ihrer Figuren zwischen „Wunderland“ und existenziellem Abgrund stösst seit ihren Erfolgen auf zunehmendes Misstrauen. Der zweite Förderpreisträger Jan Wagner (Alfred-Gruber-Preis, 3100 Euro) betreibt ganz subtil die Revitalisierung einer ästhetizistischen Poetik. Da werden fast demonstrativ „fin de siècle“-Motive aufgerufen – aber dann folgt eine ernüchternde Wendung in die Gegenwart und unter dem Idyll lugt das Grauen hervor. An den zyklisch verwobenen Gedichten des Hauptpreisträgers Michael Donhauser (Meraner Lyrikpreis, 8000 Euro) faszinierte die Inständigkeit,  mit der in einer herbstlichen Landschaft die „Schönheit“ und Vergänglichkeit der Dinge aufgerufen werden. Donhauers lyrische Protagonisten waren schon immer Fussreisende, die im Gleichmass des Gehens durch die Landschaft ihr Versmass zu finden hofften. Mit grosser Emphase näherten sich auch seine preisgekrönten Gedichte den Phänomenen der Natur, von denen sich das Ich eine metaphysische Erlösung erhofft: „Das Sehnen und Sagen, es wehte durch/ die Fluren, ich suchte und wieder jene / Schneebeere als Gewissheit, die Schlehe / und den Holunder, in der Weite, in dem / Schwellen, Atmen, dem Heben wie von Armen, vollen, weichen, als wäre noch / und getragen so der Himmel, …..“ Ein vom Geflüster der Natur ergriffenes Ich wäre noch vor einem Jahrzehnt als schwerer Systemfehler der Dichtung moniert worden. In Michael Donhausers Dichtung erhält dieses naturempfindsame Ich wieder ein poetisches Existenzrecht
MICHAEL  BRAUN

[Dieser Text – hier im Auszug – wurde für die Basler Zeitung geschrieben, aber bisher offenbar (noch) nicht gedruckt. Ich danke dem Autor für die Überlassung.] 17.5.

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