26. Wie der Staat die Geister mundtot macht

Hannes Stein führt das 66. Sonett zum Lob einer neuen Nachdichtung der Shakespeare-Sonette an, und hat er nicht recht? Voilà:

Bins müde auf den Tod, ich könnte schrein —
mitanzusehn, wie Tugend betteln geht
und blankes Nichts sich bläht in Narretein,
und wie Beständigkeit verraten steht
und Ehre an den falschen Mann gewandt
und Mädchenscheu missbraucht wird, roh geschändet
und wirkliche Vollkommenheit verkannt
und Kraft durch Kriecherei geschwächt verendet,
und wie der Staat die Geister mundtot macht
und Torheit Können prüft und dirigiert
und Wahrheit als Einfältigkeit verlacht –
kurz: wie das Gute dient, das Böse führt.

Bins müde, möchte gehen — doch sterben hieße,
dass in all dem mein Lieb allein ich ließe.

Hannes Steins Kommentar (nach zwei Mäkeleien):

Plessow hat den richtigen Ton getroffen, den Ton der saeva indignatio, die das Herz zerfleischt. Und wie kunstvoll sich diese wilde Empörung bei ihm fügt! „And captiue-good attending Captaine ill“, schreibt Shakespeare. Die Güte als Gefangener, die Bosheit als Vorgesetzter. „Kurz: wie das Gute dient, das Böse führt“, schreibt Shakespeares Nach-Dichter. Schöner, lapidarer kann man es nicht sagen. / Hannes Stein, Die Welt 10.4.04

Günter Plessow: Kritik der Liebe. Shakespeare’s Sonnets & A Lover’s Complaint. Karl Stutz, Passau. 233 S., 18 EUR.

Hier ein paar deutsche Versionen für Vers 12:

Original:
And captiue-good attending Captaine ill

Johann Joachim Eschenburg (1787 – in Prosa!):
und die gefesselte Gutherzigkeit der herrschenden Bösartigkeit gehorchend
Karl Lachmann (1820):
Und Güt´ im Band, Schlechtheit ihr Bannherrin.
Johann Gottlieb Regis (1836):
Und wie vom Bösen Gutes wird gemeistert:
Friedrich Bodenstedt (1862):
Und wie vom Bösen Gutes wird gemeistert
Johann Ludwig Ferdinand Flathe (1863):
Und Gutes geht an´s Böse stets verloren.
Karl Simrock (1867):
Und Gutes muss in schlechtem Dienst erstarren!
Ferdinand Adolph Gelbcke (1867):
Und „Gut“ als Sträfling, „Bös“ als Kerkermeister:
Hermann von Friesen (1869):
Und Gut in Haft, dem Hauptmann Schlecht gehorchend.
Adolf Bekk (1902):
Und Gutes selbst im Sklavendienst des Bösen
Stefan George (1909):
Und sklave Gut in dienst beim herren Schlecht
Ludwig Fulda (1913):
Und Häftling Gut vom Häuptling Bös gegängelt:
Douglas Sirk (1922):
Und Alles Edle Argem arg versklavt, –
Max Josef Wolff (1924):
Und Knecht das Gute in des Bösen Fron,
Terese Robinson (1927):
Und alles Gute alles Bösen Knecht:
Karl Kraus (1932):
und Güte muß des Winks der Bosheit harren
Johannes Schlaf (1939):
In Fesseln aufwartend Gutes dem Bösen.
Stephan Hermlin (1945):
Und Sklavin Güte in Verruchter Haft:
Walter Freund (1948):
Und Häftling Gut vom Hauptmann Schlecht regiert:
Hans Hübner (1949):
Und guter Tat ein böses Ende macht.
Hans Hübner (1950):
Und Gutes muss in schlechtem Dienst erstarren!
Alfred Fields (1973):
Und Gut von Hauptmann Übel kommandiert.
Stefan Stein (1983):
Wie tätige Vernunft ohnmächtig stöhnt …
Kurt Amsel (1988):
das Gute, stets vom Schlechten dominiert
Fritz Drossel (1988):
und Käpten Bosheit kapert Unrecht Gut.
Peter Fink (1988):
und Teufel heißt der Erde Kommandant.
Günter Star (1989):
und Gutes wehrlos in des Bösen Macht.
Rolf Meise (1989):
und Meister Böse hält die Welt beim Kragen.
Erwin Chargaff (1989):
und guter Knecht von bösem Herrn gequält
Achim Amme (1992):
und Gut, an Captain Hinkebein verloren
Christa Schuenke (1994):
Und Gutes Schlechtesten die Stiefel leckt.
Wolf Biermann (1990):
Und Güte, die in Ketten unterm Stiefel schreit
Volker Braun (1994):
Und der Geführte folgt der Führung dreist
Karl Bernhard (1994):
und Gott der Herr ist Teufels bravster Sklav!
Wilhelm Adler (1995):
die Güte wird im Sklavenjoche krumm
André Albatros (1995):
und gute Menschen als der Bosheit Büttel
Ingeborg Arlt:
Und Gutes muss in schlechtem Dienst erstarren!
3 Versuche von Olaf Brühl:
Und Gutes mitgeschleift in übler Bahn:
Und Gutes, unfrei, kommandiert von Käptn Blöd:
Und Gutes, festgezurrt von Käptn Schlecht:
Tina Heldt:
Und Knecht das Gute in des Bösen Fron,
(Quelle: Das www, den Übersetzer konnte ich leider nicht herausfinden !! T.H.)

Zum Lesen:

Shakespeare Sechsundsechzig. Variationen über ein Sonett (Ulrich Erckenbrecht). Göttingen: Muriverlag 1996

Im Netz:

  • Alle 154 Sonette, gesprochen von Sir John Gielgud 19 (zum Download oder Hören!!!)
  • Send any Shakespearean Sonnet as a greeting card: Blue Mountain Art’s William Shakespeare Page. [http://www.bluemountain.com/eng/shakespeare/index.html]
  • Links zu Shakespeares Sonetten (auch zu Übersetzungen in diverse Sprachen)
  • Russische Seite über Sonett 66 in vielen Sprachen

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