91. Gryphius (Meine Anthologie)

Hier (meine Anthologie) ein anderes Gedicht von Gryphius, das sich mir gerade aufdrängen will (Fazdank):

Andreas Gryphius

Die Hölle

Ach! und weh!
Mord! Zetter! Jammer! Angst! Creutz! Marter! Würme! Plagen.
Pech! Folter! Hencker! Flamm! Stanck! Geister! Kälte! Zagen!
Ach vergeh!

Tieff‘ und Höh‘!
Meer! Hügel! Berge! Felß! wer kan die Pein ertragen?
Schluck abgrund! ach schluck‘ eyn! die nichts denn ewig klagen.
Je und Eh!

Schreckliche Geister der tunckelen hölen / Ihr die ihr martert und Marter erduldet
Kan denn der ewigen Ewigkeit Feuer / nimmermehr büssen dis was ihr verschuldet?
O grausamm‘ Angst / stets sterben sonder sterben.

Diß ist die Flamme der grimmigen Rache / die der erhitzete Zorn angeblasen:
Hier ist der Fluch der unendlichen Strasse; hier ist das immerdar wachsende rasen:
O Mensch! Verdirb / umb hier nicht zuverderben.

Ein experimentelles Sonett (das Sonett war, in Deutschland, noch relativ neu, wenige Jahre vor Gryphius´ Geburt 1616 eingeführt). Statt des originalen Versmaßes der Italiener, des jambischen Zehnsilbers, benutzten die Deutschen nach dem Vorbild Opitzens (der die Erfindung Ernst Schwabe von der Heyde klaute) den französischen Alexandriner (einen sechshebigen Jambus mit Mittelzäsur). In diesem Sonett benutzen nur die Binnenverse der Quartette den Alexandriner – und zwar in einer Weise, die den im Deutschen ohnehin spröden Vers bis ins Extrem streckt durch die bloße Aufzählung unverbundener Substantive. Wenn man das Versmaß (das oben angegebene Sonett „Menschliches Elende“ gibt ein reguläreres Beispiel) nicht im Ohr hat, kann man es kaum sprechen bzw. hören. Es geht, wenn man nach dem vierten Wort der „Aufzählungsverse“ eine Pause macht.
Die dreisilbigen (und auch – drei von vier – dreiwortigen) Rahmenverse der Quartette geben eine Atempause beim lauten Lesen – wenn sie nicht auch einen Inhalt hätten! Schwer zu sprechen auch sie.
In den Terzetten brüsker Wechsel zu wieder zwei ganz anderen Versmaßen. Beide Terzette werden von zwei achthebigen Daktylen eingeleitet – bei Beibehaltung der Zweischenkligkeit durch Mittelzäsur. Diese Verse malen die Schrecknisse des Höllenfeuers aus – bei gleichzeitiger Leichtigkeit des Sprechens (dieses Gedicht sollte man laut lesen!). Der sehr lange Vers deutet zart (ha!) auf die Ewigkeit der Verdammnis. Gibt es kein Entrinnen? Auch hier ist es das Versmaß, das die Botschaft enthält. Die ausschreitenden Ansätze der Terzette werden jeweils von einer viel kürzeren Zeile unterbrochen. Das Schriftbild täuscht – diese Verse sind in Silben halb so lang wie die daktylischen. Zweimal 22 gefolgt von einmal 11 Silben. Und das ganze noch einmal.
Die Elfsilbler der Terzette sind wieder jambisch – aber zusätzlich gespannt durch eine feste Zäsur nach der vierten Silbe. Diese Spielart des fünfhebigen Jambus nennt sich sprechend Gemeinvers (vers commun).
Die Zäsur verkürzt die Antwort auf die Langzeilen radikal: Die Viersilbler stemmen sich gegen die Höllenpein der daktylischen Langzeilen. Vier gegen 22: O grausam Angst! – O Mensch! Verdirb! Im ersten Terzett geschieht der Einspruch noch rein formal. Die in sich unterteilte kurze Zeile „erlöst“ für einen Augenblick von der Gewißheit des unbefristeten Höllenfeuers. Ein Paradox drückt die Vergeblichkeit des Einspruchs aus: Stet sterben sonder sterben. Wo nur der Tod Erlösung gewährte, wird er versagt – denn tot ist man dann schon.
Die letzte Zeile des Sonetts verschärft das Paradox noch: Verdirb – um nicht zu verderben! Da der Mensch angesprochen wird – womöglich das Gedicht laut liest – muß er noch leben. Die Verdammnis war bloß eindringlich imaginiert. Jetzt bist du an der Reihe! Kehre um! sagen die vielen Kehren des Gedichts.

Spannungen beherrschen das Gedicht – auf jeder Ebene: zwischen Zeile und Zeile, Wort und Silbe, Metrum und Rhythmus, Halbvers und Halbvers etc. – zusätzlich zu den „üblichen“ inhaltlichen Spannungen zwischen den Teilen des Sonetts. Die Formspielerei kehrt nur die inhaltlichen Spannungen (den Inhalt!) nach außen. Von wegen Formalismus! Für Gryphius, den Protestanten, war das Gedicht eine geistliche Übung, die Form kein Spiel. Protestantische Exerzitien. (Die machen es mit avantgardistischer Poesie!) Das Gedicht verkündet dir: es liegt an dir.

Thomas Kling, den ich sehr schätze, hält Gryphius für einen Vorläufer unserer Betroffenheitsdichter der 70er, 80er Jahre. Wie irrt er sich hier! (Das Wasserzeichen der Poesie, XLIV!) Betroffenheit, die ganz aus Form besteht, ist gar keine. Umso eindringlicher betriffts uns. Wenn wirs lesen! Laut! Exercitium.

Ich schließe die Betrachtung sanft mit Andreas  Thalmayrs zweiter Reduktionsstufe eines Gryphiussonetts:

Vberschrifft**)


Ihr jrr´t
    jrrthumb: jrrthum

wahn









      Ihr jrr´t                                        Ihr jrr´t
Ihr jrr´t                                        Ihr jrr´t
               jhr

jrren

Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Greno 1985

**) Muß ich wirklich hinzufügen, daß die Vberschrifft nicht Kling meint?

/ Februar 2004

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..