Desinteressierte Kritik, starke Lyrik

Wäre die deutschsprachige Literaturkritik so gut wie ihr Ruf, hätte sie merken können, dass es eine enorm starke Lyrik gibt, seit Jahren, dass das oft junge Autoren waren und noch sind, dass es in der Lyrik im Vergleich zu den durch die aufgeregten Heißluftaggregate der Feuilletons und Kulturmedien zu Krönungsschreibern hochdeformierten Storytellern, echte Geschehnisse gibt. Da gibt es eine Vielfalt und ästhetische Fronten, eine Fülle von Stoffen und Formen, einen Stimmenchor, zusammengenommen so atonal, dass es kaum einer noch überblickt. Wohingegen sich das Gros der jüngeren Erzähler und Romanciers einer neuen Anspruchslosigkeit hingibt, die ihre eigene „Schicksalslosigkeit“ entdeckt hat – wie es Burkhard Spinnen als Befreiungsschlag zu verteidigen wusste (Literaturen, 09/2001). Ein paar wenige Scouts wie der Heidelberger Kritiker und Essayist Michael Braun oder der Herausgeber Urs Engeler wissen um die momentan gute Verfassung der Gegenwartslyrik und sind quasi Bestandteil einer Szene, die uneinig ist und die von sich selbst nicht viel weiß. Was gut, was vielleicht sogar ideal ist. …

Mit anderen Worten und in einem Bild (und auch, um es an Namen nicht fehlen zu lassen), warum „den Deutschland-Achter“ nicht mit Steffen Jacobs statt Thomas Brussig, mit Jan Wagner statt David Wagner, mit Yoko Tawada statt Julia Franck besetzen. Kathrin Schmidts Gedichte haben höhere Schlagzahlen als beide Benjamins zusammen. Und so ginge das fort: die knochigen Parlandotöne Volker Sielaffs, das hochangespannte Resonanzwerk Henning Ziebritzkis, das bislang vollkommen unterbelichtete Treiben Ulf Stolterfohts, Henning Ahrens ‚ tückische Naturwelten, die fast schon übermütigen Lexikalien Raphael Urweiders , Jan Wagners Kurz-Narrationen, Peter Geißlers Naivitätskunst. Oder Sabine Scho, an deren Gedichten sich der Einfluss der Kölner Schuleablesen ließe, wenn er von der Autorin nicht so eigenwillig zu etwas Neuem katalysiert worden wäre.

Das sind alles ganz ungeheuer gute Autoren und alle so vollkommen anders . …
Es gibt erst einmal keine Leser dafür. Es gibt an den Hochschulen keine Literaturdozenten, die auch nur halbwegs mit der Gegenwartsliteratur bekannt wären. Diese Gegenwartslosigkeit verpflanzt sich dann in den Hörsälen in die Köpfe künftiger Deutschlehrer.

/ Hauke Hückstadt: Gedichtblindheit. Ein Gegen-Plädoyer . Der deutsche Literaturbetrieb übersieht seine größten lyrischen Talente. FR 29.6.02

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