Grytzko Mascioni verstorben

Der Schweizer Dichter und Schriftsteller Grytzko Mascioni ist am vergangenen Freitag im Alter von 66 Jahren nach langer Krankheit verstorben. Sein Tod wurde gestern im „Corriere della Sera“ mit einer vom Autor selbst verfassten Todesanzeige bekannt gegeben. / Wiener Zeitung 18.9.03

Katholisch – arabisch – poetisch

Michael Braun bespricht für die BaZ vom 18.9.03 neue Zeitschriften. Zwei Auszüge:

Weit näher an die poetischen Einzelheiten tastet sich in Heft 159 der «manuskripte» ein famoser Essay des Schriftstellers Martin Mosebach heran. Seine Exegese entziffert die Czernin’ schen Sonette als romantischen Idealfall der Poesie, in dem «Begriffe und Anschauungen einander die Augen aufschlagen». Mosebach geht so weit, in der Czernin’schen Elementenkunde den wunderbaren Vollzug einer «katholischen Verkörperungs- oder Inkarnationsregel» erkennen zu wollen. …

Derweil nimmt Leopold Federmair in der neuen Doppelnummer von «Kolik» (Nr. 22/23) einen zweiten Anlauf, um seine massiven Zweifel an der poetischen Dignität von Czernins Sonetten argumentativ zu untermauern. Auf die Belehrungen des «bedeutenden Dichters» und seines «Wachmanns für Ordnung» reagiert Federmair dabei mit einer etwas zu ostentativ ausgestellten Ironie, die auf der angeblichen «Überladenheit» und «historizistischen» Verbissenheit der Czernin’schen Gedichte beharrt. Bislang verwenden die Diskutanten noch zu viel Energie auf gegenseitige Kränkungen anstatt den Blick über die eigenen Begrenztheiten hinaus zu richten. Ein solch vergleichender Blick könnte zum Beispiel in den Texten des aus Dresden stammenden Lyrikers Christian Lehnert den interessanten Gegenentwurf einer religiös inspirierten Dichtung entdecken, die sich von den strengen formalistischen Exerzitien eines Czernins wegbewegt hin zu einer offeneren Poetik. In einem umfangreichen Gespräch mit der Zeitschrift «neue deutsche literatur» (ndl, 5/2003), die endlich mal wieder ein interessantes Heft vorlegt, beschreibt Lehnert das Erlernen des Hebräischen und des Arabischen als Initialzündung seiner Poesie. Wer sich mit den Wurzeln der arabischen Dichtung vertraut macht, dem öffnen sich, so Lehnert, auch «die Tore in die Tiefe der Mystik und eine Sprache, die an Musik grenzt». Der Grundfigur der arabischen Dichtung, der Suche nach der unerreichbaren Geliebten, entspreche die Sehnsucht der islamischen Mystik nach dem unsagbaren Gott. Die Wahlverwandtschaft von Gedicht und Gebet – sie erfüllt sich sowohl in den «Transsubstantiationssonetten» Franz Josef Czernins wie auch in den mystischen Schöpfungsgedichten eines Christian Lehnerts.

  • «manuskripte», Hefte 159 und 160, Sachstr. 17, A-8010 Graz, je 140 S., je Fr. 13.-.
  • «Kolik», Hefte 22 und 23, Taborstrasse 33/231, A-1020 Wien, 248 S., Fr. 24.-.
  • «neue deutsche literatur», Heft 5/2003. Aufbau Verlag. 192 S., ca. Fr. 16 .-.

Universalgedicht det/ das

Wörter berühren sich mit den Phänomenen; sie wissen von einem riesigen Realitätsgeflecht. Damit aber die Wörter und Dinge untereinander in eine Beziehung treten können, bedarf es der Ordnung der Sätze und der Musik in den Sätzen. In der poetischen Organisation sprachlicher Zeichen spiegelt sich immer eine mathematische Organisation, ein bestimmtes serielles Prinzip, ein Zahlensystem. Es verhält sich sogar so, dass das mathematische Verhältnisspiel die Sprache erst zu sich selber bringt. Die Dichterin mit ihrem strengen, alles andere als willkürlichen Dichten weiss mehr als die zufällig Redenden. Sie ist näher bei Delphi, ist Pythia und Priesterin zugleich.

Das Zutrauen in ihr Tun verlieh Inger Christensen Flügel. Sie wagte es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein «Universalgedicht» in Angriff zu nehmen, womit auf ein anderes Novalis-Wort angespielt sei. Nicht mehr und nicht weniger als ein Weltpoem hatte sie damals mit «det» angestrebt. In der hervorragenden Übersetzung von Hanns Grössel ist es jetzt auch auf Deutsch zu lesen: «das». In dem poetischen Schöpfungsbericht lässt sie die Systeme fruchtbar ineinander spielen. Eines verstärkt das andere. Das hauptsächliche Ordnungsprinzip basiert auf den Zahlen drei und acht. Jeder der drei Teile Prologos, Logos, Epilogos ist neu organisiert. / Beatrice von Matt, NZZ 17.9.03

Inger Christensen: det/das. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel. Dänische Literatur der Moderne 15, Kleinheinrich-Verlag, Münster 2002. 463 S., EUR 45.-.

DLF zum Tod von Josef Hirsal

Kann man Ernst Jandl, den großen österreichischen Sprachkünstler, in eine andere Sprache übersetzen? Man kann, wenn man ein eben so großer Künstler mit Gespür für den Witz, die Wirkung und die Wahrheit der Sprache ist. Josef Hirsal war so ein Künstler. Er übersetzte Jandl und Morgenstern, Kafka, Hildesheimer und Enzensberger ins Tschechische. Vor allem aber war Hirsal selbst einer der bedeutendsten Autoren experimenteller Poesie in Böhmen. Josef Hirsal ist im Alter von 83 Jahren in Prag gestorben. / DLF 17.9.03

DLF: Er hat einmal gesagt, er habe sich in die konkrete Poesie als Dichter zurückgezogen, weil er etwas machen wollte, das absolut nicht missbraucht werden könnte. Ist ihm das gelungen? Hat er sich nie missbrauchen lassen?

Tomas Kafka: Ich glaube, ja. Er wurde eher verschwiegen als missbraucht, aber bei all den technizistischen Ansatz wie Konkretismus usw. wie es die westeuropäischen Prediger von Konkretismus gemeint haben, Hirsal blieb bei alldem ein essentieller Dichter. Er konnte zwar Kopflyrik produzieren, aber irgendwie wurde es immer ein bisschen „verschmutzt“ durch seine lyrische Ader oder Denkweise. Deswegen blieb Hirsal quasi ein Konkretist oder Avantgardist bis zum Ende seines Schaffens, aber zugleich war er ein ganz autonomer Dichter, absolut unabhängig auch von den Ismen, die er vielleicht bisweilen selbst mittragen und predigen wollte.

Christine Lavant-Lyrik-Preises 2003

In die Endrunde des Christine Lavant-Lyrik-Preises 2003 kamen: Christine Haller-Martin (Südtirol), Barbara Hundegger (Österreich), Jürgen Nendza (Deutschland), Knut Schaflinger (in Deutschland lebender Österreicher), Uwe Tellkamp und Jan Wagner (beide Deutschland). Insgesamt reichten 385 Autoren aus 13 Nationen Texte ein.

Die Lesungen finden am 25. und 26. September, jeweils ab 19 Uhr, im Festsaal des Wolfsberger Rathauses statt. / Wiener Zeitung 17.9.03

Edith Plath,

Tochter der Dichterin Sylvia Plath, protestiert mit einem Gedicht gegen die Verfilmung des Lebens ihrer Mutter, berichtet die Netzeitung. / 17.9.03

«Steine»

ist der längste und beeindruckendste von Urweiders Gedichtzyklen überschrieben. Er beginnt, als wollte er eine Phänomenologie des Gesteins entwerfen: «Steine werden aus dem meer gewaschen, / dem meer, von wo die schwalben kommen». Das lässt sich ganz harmlos an, doch schon im dritten und vierten Vers gerät das Gedicht in die verschatteten Zonen: «die schwalben, die dunkelgrau, fast schwarz / in schwärmen gegen die sonne stehen». Zeichen werden gegen den Himmel geschrieben, dunkel heben sie sich ab vom lichten Hintergrund und stehen als Warnung über einer Landschaft, die leicht als Idylle erscheinen könnte. «Steine, ungeschliffene, nicht polierte, / zeigen ihre farben erst durch wasser.» Unbeirrt fährt derweil das Gedicht mit seinen Erkundungen fort, während zugleich von täglichen Gängen die Rede ist: «in richtung spital oder vom spital zurück», so heisst es, ganz lapidar: «ein abstecher sozusagen, / vorbei an grossflächigen fenstern verschiedener therapiestationen». / Roman Bucheli, NZZ 16.9.03

Raphael Urweider: Das Gegenteil von Fleisch. Gedichte. Dumont-Verlag, Köln 2003. 90 S., Fr. 32.80.

Herwarth Walden 125

Im Neuen Deutschland vom 16.9.03 erinnert Horst Haase an den 125. Geburtstag von Herwarth Walden.

Bajonette und Fallbeile

Mit dem Lyriker Ko Un und dem Erzähler Lee Hochol stellten sich jetzt zwei der bedeutendsten Autoren aus Korea bei den Asien-Pazifik-Wochen vor. Beider Werk ist geprägt von der Hoffnung auf Wiedervereinigung.

Wenn ein Koreaner seine Überzeugung deutlich artikuliert, wirkt das auf Deutsche immer wie ein mittlerer Tobsuchtsanfall: Der Redner bebt auf seinem Stuhl, die Stimme wirft knirschende Konsonanten durch den Saal, die Hände verwandeln sich gestikulierend in Bajonette und Fallbeile. Ko Un, Koreas großer Lyriker, hat während des Berliner Literaturfestivals vorgeführt, dass Gedichte im alten Korea eigentlich Lieder gewesen sind, also Musik. Daran möchte er anknüpfen, die Seele seines Volkes durch Poesie bewahrend. „Die Musik war das Bindeglied zwischen der Dichtung und dem Universum“, sagt er, „doch mit der Einführung des Buchdrucks verloren die Lieder ihre Funktion. Die feudale Schicht betrachtete sie fortan als vulgär.“ / Berliner Morgenpost 16.9.03

Ko Un: „Ein Tag voller Wind“, Pendragon-Verlag,
12,80 Euro

Pürgger Dichterwochen

Über die Pürgger Dichterwochen, bei denen sich 1953-55 Vertreter der Naziliteratur mit jungen Autoren wie Christine Lavant trafen, schreibt die Presse, Wien, am 16.9.03

Rezensionen

Berliner Morgenpost bespricht am 11.9.03:

Mirko Bonné: Hibiskus Code. Gedichte. DuMont, Köln. 89 S., 17,90 Euro.

Moritz Bassler besprach in der FAZ vom 28.8.03:

Peter Handke: „Über Musik“. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gerhard Melzer. Mit Illustrationen von Amina Handke. Literaturverlag Droschl, Graz 2003. 104 S., geb., 31,- [Euro].

3. Internationales Literaturfestival Berlin, 10.-21.September 2003

Hier Auszüge aus der Autorenliste (Lyriker)

BOSNIEN
Mehmedinovic, Semezdin (Bosnien/USA)

BRASILIEN
Lins, Paulo

DEUTSCHLAND
Krämer, Sebastian
Barkova, Viktoria (Russland/Deutschland)
Grass, Günter
Konecny, Jaromir (Tschechien/Deutschland)
Kuhligk, Björn
Pastior, Oskar (Deutschland/ Rumänien)
Popoola, Olumide (Nigeria/Deutschland)
Rammstedt, Tilman
Rinck, Monika
Wagner, Richard
Wellershoff, Dieter

FRANKREICH
Benameur, Jeanne
Gaspar, Lorand
Métail, Michèle

GRIECHENLAND
Angeláki-Rooke, Katerina
Sotiropoulos, Ersi
Trivizaz, Eugene
Vlavianos, Charis

 

GROßBRITANNIEN

Bandele, Biyi (Nigeria/GB)
Gunesekera, Romesh (Sri Lanka / Großbritannien)
Youssef, Saadi (Irak/Großbritannien)

IRAK
Youssef, Saadi (Irak/Großbritannien)

IRLAND
Ni Dhomnaill, Nuala
Sweeney, Matthew

ITALIEN
Piumini, Roberto

KANADA
Swan, Susan

KOLUMBIEN
Cobo Borda, Juan Gustavo
Jaramillo Agudelo, Darío

KROATIEN
Cosic, Bora

MAROKKO
Bennis, Mohammed

MEXIKO
Castañón, Adolfo
Ruy Sánchez, Alberto

NIEDERLANDE
Campert, Remco
Peeters, Hagar

NIGERIA
Bandele, Biyi (Nigeria/GB)
Popoola, Olumide (Nigeria/Deutschland)

NORWEGEN
Christensen, Lars Saabye
Hagerup, Klaus

ÖSTERREICH
Auer, Martin
Janisch, Heinz

PERU
Chirinos, Eduardo

POLEN
Krynicki, Ryszard

RUSSLAND
Ajgi, Gennadij
Barkova, Viktoria (Russland/Deutschland)

SCHWEDEN
Gustafsson, Lars (Schweden / USA)

SCHWEIZ
Gartentor, Heinrich
Halter, Jürg

SLOWAKEI
Haugová, Mila

SLOWENIEN
Salamun, Tomasz

SRI LANKA
Gunesekera, Romesh (Sri Lanka / Großbritannien)

SÜDAFRIKA
Dangor, Achmat (Südafrika / USA)

SPANIEN
Janés, Clara

TSCHECHIEN
Hejda, Zbynek
Konecny, Jaromir (Tschechien/Deutschland)

UNGARN
Zilahy, Péter
Parti Nagy, Lajos
Szijj, Ferenc

USA
Dangor, Achmat (Südafrika / USA)
Federman,Raymond
Gustafsson, Lars (Schweden / USA)
Mehmedinovic, Semezdin (Bosnien/USA)

Nachruf auf Charles Hubert Sisson (1914 – 2003)

Among 20th-Century English poets, C. H. Sisson was a magnificent anachronism: a hard-working civil servant and a radical modernist, an Anglican and a savage critic of the contemporary church, a committed Englishman without a trace of atavism, a Johnsonian Tory remote from the economic priorities of the current Tory party, a major scholar and translator distrustful of the academy. In short, he ploughed a lonely furrow. …
Sisson remembered in adolescence how he knew a poem was about to happen, „and I had not to think about it in case I should spoil it – there is probably something in the nature of poetry which makes it necessary to avoid conscious premeditation“. …
His Versions and Perversions of Heine appeared in 1955, his first poetry publication. / Michael Schmidt, The Independent 9.9.03

Pantoum, Villanelle, Sestina

A skilled and restless metricist, [Donald] Justice likes to experiment with traditional forms, which he enlivens and roughens with variations. („I like to leave a rough spot or two in handling any of the forms,“ he says, „a mark of authenticity.“) He has written one of the best modern pantoums („Pantoum of the Great Depression“) and two of the finest villanelles in English („In Memory of the Unknown Poet, Robert Boardman Vaughan“ and „Villanelle at Sundown“). His sestinas are models of ingenuity („A Dream Sestina,“ „Sestina on Six Words by Weldon Kees,“ „Here in Katmandu“). In a moving elegy for his mother, „Psalm and Lament,“ he employs the structural strategies of the psalm — statement and reiteration — to encompass his sorrow. / Edward Hirsch, Poet´s Choice, The Washington Post 7.9.03

Donald Justice, „New and Selected Poems.“ Alfred A. Knopf, 1995

Poesienachrichten aus den Staaten

Aus einer lesenswerten Sammlung von Poesienachrichten aus den Staaten im Jahr 2003 in der Post Gazette vom 7.9.03 hier die Kürzeste: Dana Gioa, Dichter und Chef des National Endowment for the Arts, spendierte dieses Jahr fast $1 million an Dichter und Nachdichter. Außerdem u.a. über Louise Gluck.