112 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Ein Abend, ein Zug, ein fremdes Land und fremde Wörter. Ein Gedicht von Hannah Arendt, die vor den Nazis fliehen musste, über das Ankommen im Fremden.
Hannah Arendt
(geboren am 14. Oktober 1906 in Linden / Hannover; gestorben am 4. Dezember 1975 in New York City)
Dies war der Abschied.
Manche Freunde kamen mit
und wer nicht mitkam war ein Freund nicht mehr.
Dies war der Abend.
Zögernd senkte er den Schritt
und zog zum Fenster unsre Seelen raus.
Dies war der Zug.
Vermaß das Land im Fluge
und stockte durch die Enge mancher Stadt.
Dies ist die Ankunft.
Brot heißt Brot nicht mehr
und Wein in fremder Sprache ändert das Gespräch.
Aus: dreizehn + 13 Gedichte. Sommer 2015, S. 92
72 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Helga M. Novak
* 8. September 1935, heute vor 90 Jahren, in Berlin; † 24. Dezember 2013 in Rüdersdorf bei Berlin)
solange noch Liebesbriefe eintreffen
solange noch Liebesbriefe eintreffen
ist nicht alles verloren
solange noch Umarmungen und Küsse
ankommen und sei es in Briefen
ist nicht alles verloren
solange ihr noch in Gedanken
nach meinem Verbleib fahndet
ist nicht alles verloren
Aus: Helga M. Novak, wo ich jetzt bin. Gedichte. Ausgewählt von Michael Lentz. Frankfurt/Main: Schöffling & Co., 2005, S. 134
261 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Jan Faktor
(* 3. November 1951 in Prag)
ob
ob ob ob
(Pause)
ob ich
ich
ch ch
(Pause)
ob ich nur Lust
ob ich nur Lust haben
ob ich nur Lust haben
(Pause)
ob ich nur Lust haben
ob ich nur Lust haben werde
ob ich nur Lust haben werde
ob ich nur Lust haben werde das nächste Wort
(Pause)
ob ich nur Lust haben werde das nächste Wort auszusprech
ch ch
ob ich nur Lust haben werde das nächste Wort auszusprech
ch
ch ch
Aus: Jan Faktor, Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens. Frankfurt/Main: Luchterhand Literaturverlag, 1990 (Lizenzausgabe des 1989 beim Aufbau-Verlag erschienenen Bandes), S. 71
»Der Schalksnarr, der Schwejk dieser literarischen Landschaft heißt Jan Faktor und stammt aus der Tschechoslowakei. Ein Autor, der permanent den Konventionen, den schwer faßbaren, weil in der Regel unausgesprochenen Verabredungen darüber, wie Literatur zu sein habe, ein unschuldig tuendes, böses Schnippchen schlägt. Hinzu kommt, daß seine Texte oft wie in einem angelernten Deutsch geschrieben wirken (oder tatsächlich sind), was auch von ihm, dem wirkungsvollen Entertainer und Inszenator seiner Texte nach Art manches Zirkus-Clowns als ›verfremdender Reizs eingesetzt wird… Man wird angesichts solcher Texte an Ernst Jandl denken dürfen, der davon sprach, daß mit einer unverbrauchten Sprache sich eher ein Gedicht machen läßt, als mit einer durch Poesie bereits verbrauchten…«
Adolf Endler
Jan Faktor wurde 1951 in Prag geboren. Verschiedene Arbeitsverhältnisse in Prag und der Slowakei. Fernstudium Datenverarbeitung. In Prag zuletzt als Programmierer tätig. 1978 Übersiedlung nach Berlin/DDR. Arbeit als Kindergärtner, Schlosser und Übersetzer.
Hilde Rubinstein (geboren 7. April 1904 in Augsburg; gestorben 5. August 1997 in Göteborg) war eine deutsche Malerin und Dichterin. Sie publizierte unter verschiedenen Pseudonymen wie Katarina Brendel und Hilde B. Winrich. (…) sie emigrierte 1934 über Belgien und die Niederlande 1935 nach Schweden. 1936 und 1937 lebte sie in der Sowjetunion, wo sie wegen trotzkistischerTätigkeit zehn Monate inhaftiert wurde und ihr die Auslieferung ans Deutsche Reich drohte. Sie flüchtete nach Polen und kam über Lettland wieder nach Schweden. https://de.wikipedia.org/wiki/Hilde_Rubinstein
Paradigmen der Ratlosigkeit
Pablo Neruda sagte: Man muß mehr von Geist sprechen
Ach ja Pablo – nur hören sie dann nicht hin
und es ist müßig immerzu Brücken zu bauen
die niemand beschreitet ..
Und der berüchtigte Apfel war keine Frucht –
er war aus Gold fabriziert und den rollen sie
hin und her bis ins Heute ... Aber die Schlange
ist ohne Schuld – sie glaubte es wäre ein Apfel
und wollte Adam und Eva auf dessen Köstlichkeit
hinweisen
Aus: Hilde Rubinstein, Tiefgefrorenes Reh. Stücke Lyrik Prosa. Berlin: Henschel, 1987, S. 143
180 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Ingeborg Meyer, uns bekannt unter dem Namen Inge Müller, wurde bei einem Luftangriff in Berlin zusammen mit ihrem Hund unter den Trümmern ihres Hauses begraben und konnte erst nach drei Tagen geborgen werden. In 3 Gedichten „Unterm Schutt“ I-III schrieb sie darüber. Der jüngere Dichter Ron Winkler widmete ihr ein Gedicht, das hier unter einem von ihren steht.
Inge Müller
(* 13. März 1925 in Berlin; † 1. Juni 1966 in Berlin)
UNTERM SCHUTT III
Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich
Wir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich.
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht.
Fragt den Hund wie.
Ron Winkler
(* 31. Dezember 1973 in Jena)
unterm schutt IV
für Inge Müller
was auf dir lag war das Land, blind-
gegangen unter weißroten Fahnen
kein Wasser zu löschen die Druckstellen
im Traum, die sich erinnernde Leere
eines gesunkenen Himmels,
deines geräumten Grabs
unterm Schutt wird der Mensch
zum Kellerträger, seinen Fragen
an Hunde antworten Wölfe
Inge Müller: Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn. Lyrik, Prosa, Tagebücher. Hrsg. Ines Geipel. Berlin: Aufbau, 1996, S. 16
Libus. Magazin für Literatur und zeitgenössische Kunst, 01/2001, S. 18
363 Wörter, 2 Minuten Lesezeit
Eine kleine Groteske aus der europäischen Kolonialherrschaft in Indien in einem Gedicht des mexikanischen Schriftstellers Octavio Paz.
Octavio Paz
(* 31. März 1914 in Mixcoac, heute Mexiko-Stadt; † 19. April 1998 ebenda)
Apotheose des Generals Dupleix
Für Severo Sarduy
(At the entrance to the pier of Pondicherry is
the statue of the unhappy rival of Clive, on a
pedestal formed of old fragments of temples.
Murray's Handbook of India)
Dem Meer zugewandt entfaltet sich,
ein steinerner Fächer, der Halbkreis.
Aus einem Tempel herausgebrochen: neun
Säulen: die neun Planeten.
In ihrer Mitte, aufrecht auf dem Piedestal,
das Kinn ein Bug, das Haupt ein Blitzableiter,
gesalbt mit Teer und Butter,
weder Ganesha noch Hanuman: in der Parade
der Götter ein noch anonymer Gott,
und ebenso anonyme Stunden regiert er,
die Rechte erhoben, Kniehose, Perücke,
der General Dupleix, ehern auf seinem Sockel,
zwischen dem Hôtel d’Europe und dem Meer ohne Schiffe.
(Übersetzung: Fritz Vogelgsang und Rudolf Wittkopf)
Die Statue des französischen Generals Joseph François Dupleix stand nach Erringung der Unabhängigkeit Indiens noch einige Zeit in Pondicherry, der früheren Hauptstadt der französischen Kolonie in Indien. Was einst koloniale Machtinszenierung war, wurde nach der indischen Unabhängigkeit zur Projektionsfläche für das Volk – die Statue wurde mit Teer beschmiert, als handle es sich um Hanuman, den Affengott. Paz beschreibt die Figur als „anonymen Gott“, erhöht auf einem Sockel aus zerstörten Tempeltrümmern, der sich zwischen zwei Welten spannt: kolonialer Repräsentation und indischer Spiritualität, Machtgestus und Lächerlichkeit, Ewigkeit und Verfall.
Apoteosis de Dupleix
Para Severo Sarduy
(At the entrance to the pier of Pondicherry is
the statue of the unhappy rival of Clive, on a
pedestal formed of old fragments of temples.
Murray's Handbook of India)
Cara al mar se despliega,
abanico de piedra, el semicírculo.
Desgajadas de un templo, las columnas
son nueve: los nueve planetas.
En el centro, de pie sobre la basa,
proa el mentón, la testa pararrayos,
ungido de alquitrán y mantequilla,
no Ganesh ni Hanumán: entre la cáfila
de dioses todavía dios anónimo,
horas también anónimas gobierna,
diestra en alto, calzón corto, peluca,
el general Dupleix, fijo en su zócalo,
entre el Hôtel d’Europe y el mar sin barcos.
Quelle: Octavio Paz: Vrindavan und andere Gedichte aus dem Osten. Spanisch und Deutsch. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1994, S. 50f
Heute vor 60 Jahren starb der Dichter Johannes Bobrowski. Sein Gedichtband „Sarmatische Zeit“ war in der Stadt- und Kreisbibliothek in Weißenfels im Sterbehaus des Dichters Novalis vorhanden, als ich wenige hundert Meter weiter zur Erweiterten Oberschule ging. Kindheit, vertraute Klänge. Schulbeispiele für das, was seine Poetik „sinnlich vollkommene Rede“ nannte. (In der Schule kam er nicht vor.) Man musste es nur so lange lesen, bis man es fast auswendig konnte. Kindheit, Wagenfahrt, Wilna, Am Strom…
Johannes Bobrowski
(* 9. April 1917 in Tilsit; † 2. September 1965 in Berlin)
Kindheit
Da hab ich
den Pirol geliebt –
das Glockenklingen, droben
aufscholls, niedersanks
durch das Laubgehäus,
wenn wir hockten am Waldrand,
auf einen Grashalm reihten
rote Beeren; mit seinem
Wägelchen zog der graue
Jude vorbei.
Mittags dann in der Erlen
Schwarzschatten standen die Tiere,
peitschten zornigen Schwanzschlags
die Fliegen davon.
Dann fiel die strömende, breite
Regenflut aus dem offenen
Himmel; nach allem Dunkel
schmeckten die Tropfen,
wie Erde.
Oder die Burschen kamen
den Uferpfad her mit den Pferden,
auf den glänzenden braunen
Rücken ritten sie lachend
über die Tiefe.
Hinter dem Zaun
wölkte Bienengetön.
Später, durchs Dornicht am Schilfsee,
fuhr die Silberrassel
der Angst.
Es verwuchs, eine Hecke,
Düsternis Fenster und Tür.
Da sang die Alte in ihrer
duftenden Kammer. Die Lampe
summte. Es traten die Männer
herein, sie riefen den Hunden
über die Schulter zu.
Nacht, lang verzweigt im Schweigen –
Zeit, entgleitender, bittrer
von Vers zu Vers während:
Kindheit –
da hab ich den Pirol geliebt –
14.11.1954
Aus: Johannes Bobrowski, Die Gedichte (Gesammelte Werke Band 1), Berlin: Union, 1987, S. 6f
263 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Ein Gedicht über das Thema Diktatur und Künstler.
Peter Hacks
(* 21. März 1928 in Breslau, heute Wrocław; † 28. August 2003 in Groß Machnow)
MNESTER
Goebbels sprach zu Hitler das:
Auf die Künste ist Verlaß.
Für den Schmuck der Olympiade
War kein Meister sich zu schade,
Dieses Sportfest lehrt zugleich,
Die Kultur gehört dem Reich.
Josef Thoraks Kriegsbekenner,
Arno Brekers Muskelmänner.
Auch erwies sich Georg Kolbe
Angetan von unsrer Vollbe-
schäftigung. Und gegen Kasse
Zeigten Kolbes Puppen Rasse.
Gret Palucca, Mary Wigman
Folgten braunen Paradigmen,
Harald Kreutzberg gab sich ganz
Nordisch steil im Schwertertanz.
Werner Egk sowie Carl Orff
Hallten durchs Olympiadorf.
Selbst der Nestor Richard Strauss
Fertigte den Festchor aus,
Schlug höchstselber, weiß befrackt,
Zu dem Hochgesang den Takt.
Deutsche Sänger hymnisch brausend
Und nicht weniger als tausend.
Alle dienten unsren Plänen.
Droht uns was, dann nicht von denen.
Soweit also Goebbels. Wir
Wiederum entsinnen hier
Uns des römischen Mimen Mnester,
Der bei Hof wie im Orchester
Den maßgebenden Personen,
Ohne jemals sich zu schonen,
Teils mit Schönheit, teils mit Kraft,
Wohlsein und Genuß verschafft.
Im weiteren Fortgang des langen Gedichts wird die Geschichte Mnesters erzählt, über den der Kaiser Claudius in der letzten Strophe sagt:
Albern und der Welt ein Ärger,
Dünkt mich, wäre, ausgerechnet
Einen Künstler nicht zu hängen,
Bloß weil er nicht schuldig ist.
Mnester war ein hochtalentierter, aber gefährlich exponierter Künstler am Hof der Kaiser Caligula und Claudius. Seine Nähe zur kaiserlichen Familie wurde ihm zum Verhängnis. Obwohl er unschuldig oder zumindest unschuldig-schuldig war, ließ ihn der Kaiser hinrichten. Seine Geschichte erzählen Tacitus, Sueton und Cassius Dio.
Das Gedicht aus: Peter Hacks, Die Gedichte. Hamburg: Edition Nautilus, 2000, S. 140
96 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Katharina Hacker
Geburt
ich erinnere mich an den Operationssaal daß
ich den Schnitt nicht hörte zu meinem Erstaunen
nur die Bewegungen spürte und den Anästhesisten
sah während sie den Bauch öffneten und einen
kurzen Moment tasteten nach dem Kind das
erschreckt aufwachte nehme ich an vorher
hatte es noch geschlafen ganz deutlich
der Kopf lag geborgen knapp unter den Rippen
ich hätte gerne gesehen wie es die Augen aufschlug
um sie im überhellen Licht gleich wieder zu schließen
zu schreien kurz nur daran erinnere ich mich
Aus: Katharina Hacker, Überlandleitung. Prosagedichte. Berlin: Suhrkamp, 2007, S. 87
Manuela Bibrach
Sextilis
Geduldig reckt der Mais
die Blütenköpfe dem September zu
samt seiner süßen Kolbenfrucht
noch hat August die Stabsgewalt
doch bald steht hier ein Stoppelfeld
der Abend dämmert schon
Wir gehen durch die Tage wie im Traum
der Sommer bäumt sich Äpfel
hängen blank in Zweigen
der Hoin wirft satten grünen Schaum
und Perseiden schneiden nachts
den sammetblauen Raum
Auch dieses Jahr ließ Wälder brennen
die Dürre rief nach einer Regenfrau
doch gab es Wind und Sand und Wellen
und dunkle Tage neben hellen
was strecken wir uns nach den Sternen
das was uns hält ist hier
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin von ihrem Facebookkonto übernommen.
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