Morgenrot – leuchtest mir zum frühen Tod

1940 erschien in einem Hamburger Verlag ein seltsam unpolitisches Gedicht, das an den Beginn des Krieges wenige Monate zuvor, am 1. September 1939, heute vor 85 Jahren, erinnert. Das Wort Krieg kommt darin gar nicht vor, dafür aber, nur dürftig im Reimwort versteckt, der frühe Tod: Heldentod (siehe Bildpostkarte nach dem Lied von Wilhelm Hauff).

Wolfgang Frank

(* 12. Juni 1909 in Lübeck; † 19. Juli 1980 ebenda)

Abschied 
(1. September 1939)

Noch einmal jetzt gekostet
den süßen, heißen Trunk der Welt!
Noch einmal jetzt getoastet
auf das, was steht und das, was fällt.

Reicht mir die letzte Schale!
Gib deinen Mund! Die Nacht ist lang –
Gib mir zum letzten Male
den innigsten Zusammenklang.

Für wen willst du dich sparen?!
Dein künftiger Mann ist morgen tot.
Schon schmettern jubelnde Fanfaren
das alte Lied vom Morgenrot...

Die Welt ist ganz von Sinnen;
ihr hilft kein Mensch, kein Gott!
So laßt uns denn beginnen:
Wir legen sie in Schutt und Schrott.

Und wolltest du mich fragen:
Warum? Mein Gott, warum?!
Ich kann dir's auch nicht sagen!
Das Schwert ist immer blind und stumm

Der alte Gott da droben
brach uns den Stab.
Ich will das Leben loben,
solange ich’s hab.

Will Sonn' und Wolken schauen,
soviel ich kann.
Auch über Trümmern blauen
die Himmel dann und wann.

Drum einmal noch gekostet
den süßen, heißen Trunk der Welt!
Zum letzten Mal getoastet
auf das, was steht und das, was fällt!

Aus: Wolfgang Frank, Gedichte aus zehn Jahren. Hamburg: Hans Köhler, 1940, S. 62f

Screenshot

https://bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/frontend/index.php/Detail/occurrences/morgenrot_morgenrot_leuchtes

Noch einmal Goethes Wolken

Heute nur zwei Strophen aus Goethes Gedicht „Zu Howards Ehrengedächtnis“. Eingeleitet aber von einer kleinen Auswahl von Goethes Wolkenbeschreibungen in Prosa – drei vor und zwei nach seiner Lektüre des Engländers Howard.

Einmal versammeln die Berge ungeheure Wolkenmassen um sich her, halten sie fest und starr wie zweite Gipfel über sich, bis sie, durch innern Kampf elektrischer Kräfte bestimmt, als Gewitter, Nebel und Regen niedergehen, sodann wirkt auf den Überrest die elastische Luft, welche nun wieder mehr Wasser zu fassen, aufzulösen und zu verarbeiten fähig ist.  Ich sah das Aufzehren einer solchen Wolke ganz deutlich: sie hing um den steilsten Gipfel, das Abendrot beschien sie.  Langsam, langsam sonderten ihre Enden sich ab, einige Flocken wurden weggezogen und in die Höhe gehoben; diese verschwanden, und so verschwand die ganze Masse nach und nach und ward vor meinen Augen wie ein Rocken von einer unsichtbaren Hand ganz eigentlich abgesponnen. 

Der ganze Himmel war mit einem weißlichen Wolkendunst umzogen, durch welchen die Sonne, ohne daß man ihr Bild hätte unterscheiden können, das Meer überleuchtete, welches die schönste Himmelsbläue zeigte, die man nur sehen kann. 

… mein Führer machte mich aufmerksam auf einen langen Wolkenstreif, der südwärts, einem Bergrücken gleich, auf der Horizontallinie aufzuliegen schien: dies sei die Andeutung der Küste von Afrika, sagte er.  Mir fiel indes ein anderes Phänomen als seltsam auf; es war aus leichtem Gewölk ein schmaler Bogen, welcher, mit dem einen Fuß auf Sizilien aufstehend, sich hoch am blauen, übrigens ganz reinen Himmel hinwölbte und mit dem andern Ende in Süden auf dem Meer zu ruhen schien. 

Am ganz reinen Himmel, vor Sonnenaufgang, einige Streifen im Osten, die sich, wie sie herankam, in Zirrus auflösten, eben so die übrigen, im Norden und Zenit schwebenden, Streifen. Die Nebel aus der Saale verflossen sogleich in die Luft, legten sich an die Berge, schlugen als Tau nieder; das Wenige was empor kam zeigte sich auch gleich als leichtere Streifen. Gegen Süden zu fahrend sah man am Horizont, in der Gegend der Böhmischen- und Fichtelgebirge, gleiche Streifen, aber gedrängter über einander. 
Eben so verhielt es sich Morgens bei Sonnenaufgang. Der ganze Himmel war mit einzelnem, einander berührendem Gewölk bedeckt, davon sich ein Teil in die obere Luft auflöste, ein anderer aber so zonig und grau herunterhing, daß man jeden Augenblick erwartete ihn als Regen niederfallen zu sehn. 

Auf dem Wege nach Sandau, wo wir gegen Südost fuhren, sahen wir die sämtlichen Wolken-Phänomene in ihrer charakteristischen Mannigfaltigkeit, Abgesondertheit, Verbindung und Übergängen, als ich sie nie gesehen, und zwar in solcher Fülle daß der ganze Himmel davon überdeckt war. Das leichteste Gespinst der Besenstriche des Zirrus stand ruhig am obersten Himmel, ganze Reihen von Kumulus zogen, doppelt und dreifach übereinander, parallel mit dem Horizonte dahin, einige drängten sich in ungeheure Körper zusammen und indem sie an ihrem oberen Umriß immer abgezupft und der allgemeinen Atmosphäre zugeeignet wurden, so ward ihr unterer Teil immer schwerer, stratusartiger, grau und undurchscheinend, sich niedersenkend und Regen drohend. Eine solche Masse zog sich uns über das Haupt hin, und es fielen wirklich einige Tropfen. Da nun alles dieses in der mittlern Luft vorging war uns die Aussicht auf den Horizont nicht versagt. Wir sahen auf dem ganzen Halbkreis der entferntesten böhmischen Gebirge ein übereinander getürmtes Amphitheater von Kumulus liegen, davon die einzelnen wolligen Massen durch kräftigen Sonnenschein in Licht und Schatten gesetzt wurden. Der Wind hatte sich geändert, es war ein Südwest, der aber nun die untere Region zu affizieren schien. Und so dauerte der Konflikt zwischen der Atmosphäre und den Wolken den ganzen Tag über. Nach Sonnenuntergang jedoch und Aufgang des Mondes hatte sich der Himmel ganz aufgeklärt, so daß nur ganz leichte Zirrusstreifen zu sehen waren.

Mond in Wolken. Zeichnung von Goethe
Mond in Wolken, aus: Hans Wahl, Goethe als Zeichner der deutschen Landschaft. 1776-1786. Erfurt: Arbeitsgemeinschaft Thüringer Verleger. Gebr. Richter, 1949, S. 14

Die erste Strophe handelt von poetischen Versuchen, dem „ungebildeten Zufälligen“ der Wolkenbildung eine bestimmte Form zu geben (in einem Kommentar nennt er Shakespeare und den indischen Dichter Kalidasa). Die zweite Strophe beschreibt Howards Wolkenlehre. Ich mache auf die vorletzte Zeile aufmerksam und reiche darunter Goethes Kommentar zu dieser Zeile nach.

Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft, 
Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft;
Da droht ein Leu, dort wogt ein Elefant,
Kameles Hals, zum Drachen umgewandt,
Ein Heer zieht an, doch triumphiert es nicht,
Da es die Macht am steilen Felsen bricht;
Der treuste Wolkenbote selbst zerstiebt
Eh er die Fern' erreicht, wohin man liebt.

Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn
Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn.
Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt,
Er faßt es an, er hält zuerst es fest;
Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,
Benennt es treffend! – Sei die Ehre dein! –
Wie Streife steigt, sich ballt, zerflattert, fällt,
Erinn're dankbar deiner sich die Welt.

Aus: Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800-1832. Hrsg. Karl Eibl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, S. 503.

Diese [Howards] Benennungsweise nun ist angekündigt und ausgesprochen in der vorletzten Zeile, wie folgt:

Wolken unterscheiden

Abgelenkt vom 100. Geburtstag der neuseeländischen Dichterin Janet Frame wollte ich einen Text zu Goethes Geburtstag am nächsten Tag folgen lassen, aber da, gestern, stand der 150. des spanischen Dichters Manuel Machado an, und so gibt es erst heute, zwei Tage nach Goethes 275. Geburtstag, einen Text zum Anlass. Vielleicht auch zwei, oder drei? Denn gestern Abend am Strand in Gahlkow stachen uns Wolken in die Augen, hier im Blick nach Nordwest und Nordost…

Erstes Bild 19:52 Uhr (Sonnen-), die goldene, zweites 20:29 Uhr (Wasser-Anbeter) die blaue Stunde.

… und so kam mir die Idee, etwas aus Goethes wissenschaftlich-poetischer Wolkenlehre zu bringen. 1816 las er den Essay on the Modification of Clouds des Engländers Luke Howard (1772-1864). Er schrieb darüber in Prosa und Vers.

Für heute Teil 1 des Triptychons „Zu Howards Ehrengedächtnis“, eine Art Vorspruch.

Atmosphäre

»Die Welt sie ist so groß und breit,
Der Himmel auch so hehr und weit,
Ich muß das alles mit Augen fassen,
Will sich aber nicht recht denken lassen.«

Dich im Unendlichen zu finden,
Mußt unterscheiden und dann verbinden,
Drum danket mein beflügelt Lied
Dem Manne, der Wolken unterschied.

Aus: Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800-1832. Hrsg. Karl Eibl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, S. 502.

Ich, Poet der Dekadenz

Manuel Machado

(* 29. August 1874, heute vor 150 Jahren, in Sevilla; † 19. Januar 1947 in Madrid)

Ich, Poet der Dekadenz, 
Spanier aus dem 20. Jahrhundert,
der ich den Stierkampf hab bewundert
und auch besungen
die Dirnen und den Schnaps ...
und die Nacht in Madrid,
und die wüsten Spelunken,
und die Laster, die dunklen,
dieser Enkel des Cid ...,
ich darf genug nun haben
von solchem Lotterleben
und trink, der Übel wegen,
nicht mehr so viel wie alle sagen.

Denn es entspricht,
was ich erdichtet als Poet,
der Inschrift länger nicht,
die tief in meiner Seele steht ...

Ein Gemeinplatz: »stehn«.
»Seele«, als Wort verschlissen.
»Meine«... Kann man das wissen?
Alles ist je nachdem.

Deutsch von Gustav Siebenmann, aus: Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Spanisch/Deutsch. Ausgewählt, kommentiert und herausgegeben von Gustav Siebenmann und José Manuel López. Stuttgart: Reclam, 1985, S. 200. Auch in dass., 5., überarb. u. erw. Aufl., 2003, S. 97/99

Yo, poeta decadente, 
español del siglo veinte,
que los toros he elogiado,
y cantado
las golfas y el aguardiente...
y la noche de Madrid,
y los rincones impuros,
y los vicios más oscuros
de estos biznietos del Cid...,
de tanta canallería
harto estar un poco debo,
ya estoy malo, y ya no bebo
lo que han dicho que bebía.

Porque ya
una cosa es la Poesía
y otra cosa lo que está
grabado en el alma mía ...

Grabado, lugar común.
Alma, palabra gastada.
Mía... No sabemos nada.
Todo es conforme y según.

El mal poema, 1909

Wenn die Sonne mehr Jahre als Furcht scheint

Janet Frame

(Nene Janet Paterson Clutha, * 28. August 1924, heute vor 100 Jahren, in Dunedin, Neuseeland; † 29. Januar 2004 ebenda)

When the sun shines more years than fear

When the sun shines more years than fear
when birds fly more miles than anger
when sky holds more bird
sails more cloud
shines more sun
than the palm of love carries hate,
even then shall I in this weary
seventy-year banquet say, Sunwaiter,
Birdwaiter, Skywaiter,
I have no hunger,
remove my plate.

Wenn die Sonne mehr Jahre als Furcht scheint

Wenn die Sonne mehr Jahre als Furcht scheint
wenn Vögel fliegen mehr Meilen als Zorn
wenn Himmel hält mehr Vogel
Segel mehr Wolke
scheint mehr Sonne
als die Hand der Liebe hält Haß,
auch dann werde ich dem müden
Bankett von siebzig Jahren sagen, Sonnenkellner,
Vogelkellner, Himmelkellner,
ich bin nicht hungrig,
stellt den Teller fort.

Aus: Poesiealbum Sonderheft Gedichte aus Neuseeland. Auswahl und Übertragung Axel Vieregg. Märkischer Verlag Wilhelmshorst 2014, S. 24f

Über die Autorin

Sie wurde 1924 in Neuseeland als drittes von fünf Kindern eines Eisenbahnarbeiters geboren. In ihrer Familie häuften sich tragische Ereignisse. George, ihr Bruder, litt an einer schweren Epilepsie, zwei ihrer Schwestern, Myrtle und Isabelle, ertranken. Bei ihr selbst wurde fälschlicherweise Schizophrenie diagnostiziert, weshalb sie acht Jahre, von 1947 bis 1954, in Nervenheilanstalten verbrachte, wo sie mit 200 qualvollen Elektroschocks „therapiert“ wurde. Die Erinnerungen an diese Zeit verarbeitet sie 1961 in ihrem Roman „Gesichter im Wasser“ (Faces in the Water).

https://de.wikipedia.org/wiki/Janet_Frame

Oder war es ein Gedicht?

Michael Palmer 

(geboren am 11. Mai 1943 in Manhattan)

Aus der Anthologie (Traum des S)

Ein Buch voll dunkler Bilder
oder war es ein Gedicht
in einem Buch entdeckt
dessen erste Zeile lautete

„Ein Buch voll dunkler Bilder"
dunkel wie der Fluss Eros
oder die Nebel der Schöpfung
Wer wird inmitten solcher

Bilder bemerken
ob wir Atem gegen Atem
tauschen, ineinander
eintreten

mit Schmerz und Freude zugleich
wie in einem Buch voll dunkler Bilder
dunkel wie ein Traum von Übersetzung
oder die Nebel der Schöpfung
From the Anthology (W's Dream)

A book full of dark pictures
or was it a poem
discovered in a book
whose first line read

"A book full of dark pictures"
dark as the river of Eros
or Creation's mists
Who will ever notice

among such images
if we should exchange breath
for breath, enter
each other

with pain and pleasure mixed
as in a book full of dark pictures
dark as a dream of translation
or Creation's mists

Ursprünglich aus dem Band At Passages, 1995. Zweisprachige deutsche Ausgabe: Michael Palmer, Gegenschein. Gedichte / poems, übersetzt von Rainer G. Schmidt. Berlin: kookbooks, 2012, S. 122f

abwieansage

Nach längerer Pause weiter mit der Papenfußserie. Aus jedem Buch (soweit in meiner Bibliothek vorhanden) ein Gedicht. Nicht in chronologischer Form nach der Entstehungszeit, sondern nach dem Erscheinen der Bücher. Das geht oft auseinander, so auch und ganz besonders bei Bert Papenfuß, der seit frühester Jugend ohne Aussicht auf Veröffentlichung ganze Serien Bücher produziert hatte.

1993 begann Gerhard Wolf in seinem Verlag Janus press eine Ausgabe Gesammelte Texte mit gleich drei Bänden. Band 2 war: till. Gedichte 1973 bis 1976. Papenfuß war 37, als die Werkausgabe zu erscheinen begann und zwischen 17 und 20, als er diese Gedichte schrieb. In dieser Zeit benutzte er eine private Rechtschreibung und selbst erfundene Gattungsbegriffe. Statt „Literatur“ oder „Lyrik“ schrieb er „ark“ (später aber schon arkdichtung). Der Band oder Zyklus, der mit diesem Gedicht begann, hieß im Untertitel „abwieansagen 1973/76“.

WARUM SETZT MAN GOTT FUER KRIEG ODER 
DIE DIKTATUR EINES HIPPIES ODER UNDEUTLICH
HAB ICH MICH AUSGEDRUEKKT DEUTLICH

WARUM UNTERDRUEKKT MAN ALL DIE GUTEN
UM SPAETER SIE DANN GELTEN ZU LASSEN
WARUM WIRD FUER FRIEDEN G E K A E M P F T
WARUM WERDEN DIE EINST GUTEN
IMMER DIE SPAETERHIN SCHLECHTEN
WARUM WIRD FUER DEN KRIEG G E K A E M P F T
WARUM LAESST MAN ALL DAS TUN
UMS DANN FERGOLTEN LASSEN ZU SEIN
WARUM WIRD ZUM GUTEN G E B O E S T
WARUM SCHAFFT MAN SCHEINGEGENSAETZE
UND SPIELT DIESE GEGENEINANDER AUS
WARUM MAN SEINESGLEICHEN U E B E R L A C H T
WARUM SIEHT MAN NICHT EIN
DASS GUT UND BOESE EINS IN UNS IST
WARUM FASST MAN ES NICHT Z U S A M M E N

Aus: Bert Papenfuß: till. Gedichte 1973 bis 1976. Berlin: Janus Press 1993, S. 18

Bisher in dieser Serie:

1. NACHTRAUERN. BERT PAPENFUSS †
2. FUER NEUE IRRE LAENDER
3. WENN IHR GEDICHT WOLLT
4. IHR SEID EIN VOLK VON SACHSEN
5. ICH WEISS
6. DIE VERSCHEISSERUNG VON GESAMTEUROPA
7. DER WILLE ZUM GEDICHT
8: »es ist nicht so einfach frei zu sein«

Klagegesang der Mutter Ukraine

Als russische Truppen in das Nachbarland Ukraine einmarschierten, machten sich einige von uns Sorgen um die – russische Kultur, ob der Westen sie jetzt ungerecht behandeln würde. Das wäre ehrenwerter gewesen, wenn sie auch gefragt hätten, ob es ukrainische Kultur und ukrainische Literatur gibt und ob – schweigen wir von den Kriegsschäden, die auch die ukrainische Kultur schon in den ersten Tagen erlitt – ob wir, ob sie sie gerecht behandeln.

Hier ein Gedicht des ukrainischen Dichters Iwan Dratsch aus einem Band der „Weißen Lyrikreihe“ des DDR-Verlags Volk und Welt. Es ist ein Ausschnitt aus einer Sinfonie auf den Tod des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. Die Klage mag heute auch außerliterarisch aktuell sein.

Iwan Dratsch 

(ukrainisch Іван Федорович Драч; * 17. Oktober 1936 in Telischynzi, Oblast Kiew, Ukrainische SSR; † 19. Juni 2018 in Kyjiw)

Aus der Sinfonie "Schewtschenkos Tod"

Klagegesang der Mutter Ukraine

Und zu wem werd ich gehen,
in die Augen wem sehen,
wem kristallenes Blühen
in den Tälern erziehen?
Und wo soll ich dich finden?
Zwischen Gras und Ackerwinden?
Oder begraben im Sand,
wo Efeu das Kreuz umwand?
Und welch Tisch soll ich decken?
Und wem wird es schmecken?
Wem reiche den Becher ich dann
und stoß mit dem Kreuz mit ihm an?
Und wie soll ich dich ehren?
Soll ich Kirschfrüchte mehren
oder des Ahornblatts Glanz
heften an deinen Dornenkranz?!

Nachdichtung von Andreas Reimann, aus: Iwan Dratsch, Ukrainische Pferde über Paris. Gedichte. Berlin: Volk und Welt, 1976, S. 78.

Голосіння матері України

Та до кого ж я літатиму,
Кому в очі заглядатиму,
Кому квіти-самоцвіти
По долинах розстилатиму?
Відкіль тебе ж викликати?
Чи то з рути? Чи то з м'яти?
Чи з глибокої могили,
Де барвінки хрест обвили?
Які столи застилати,
Повні чари наливати?
Та й налити, пригубити,
З хрестом цокнутись і пити?..
Як же тебе шанувати -
Цвіт вишневий обсипати,
А чи жовтий лист кленовий
На віночок твій терновий?!

Karel Hlaváček

Er war ein junger Dichter und Maler in der Epoche der Dekadenz. Er starb mit 23 an Tuberkulose. 15 Jahre vor Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ schrieb er einen Text, in dem sich ein Häftling in eine Spinne verwandelt.

Karel Hlaváček 

(Geboren am 24.* August 1874, heute vor 150 Jahren, in Prag; gestorben am 15. Juni 1898 ebenda) 

Karel Hlaváček: Selbstbildnis (Mein Christus)

*) andere Quellen schreiben 29. oder auch 23. August

Rachegesang

Schöne Manon, Ihr schüchterner Abbé ist das nicht mehr,
der zu Euch kam: Ihr kränkeltet und langweiltet Euch sehr,

war er bei Euch, so hofftet Ihr, daß er den Mut nun finde,
Euch zu erzähln – wie er versprach – von gelber Rosen Sünde ...

Meine Manon, zu hart ist meine Stimme heut, Ihr müßts ertragen.
Und wie ein Geuse stolz sein kann ich nur auf meinen leeren Magen.

Freunde verließ ich und das heimatliche Feld, aus freien Stücken,
um Sie mit einer Kantilene con Viola zu beglücken;

mit diesem Rachelied zeigt Euch mein schwacher Mund:
Der Hunger, nicht der Überdruß ist Eurer Schwachheit Grund;

und meine Augen bleiben mannhaft kalt bei jener Sage
vom Mond, der blind geworden ist durch seiner Tränen Klage.

Manon, ich weiß, das macht nervös Sie, meine Liebe;
Sie lögen sich gern vor, daß Sie die alte Sehnsucht triebe

zu einem, und verlegne Stille regt dabei sich wieder
und fällt dem anderen zum Gruß schlaftrunken auf die Gärten nieder.

Deutsch von Barbara Grüning, aus: Die Prager Moderne. Erzählungen, Gedichte, Manifeste. Mit einer Einleitung von Milan Kundera. Hrsg. Květoslav Chvatík. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991, S. 40.

Mstivá kantiléna
I.

Oh, moje Manon! To juž není nesmělý Váš abbé,
jenž к sličné Manon chodil, stonavé a nudou slabé,

a při němž Manon doufávala : snad se dneska vzmuží
a začne slibovanou legendu o hříchu žlutých růží . . .

Oh, moje Manon! Zvykejte! Dnes hlas mám příliš tvrdý
a jako Geuz jen na svůj hlad si mohu býti hrdý.

Já schválně opustil své soudruhy a rodná pole,
bych zazpívat Vám mohl kantilénu při viole,

a mstivou kantilénu, v níž by moje ústa chabá
Vám vyčtla, že jste spíše hladem nežli nudou slabá,

a v níž by vzmužily se moje oči bez tepla
nad legendou, jak luna dlouhým pláčem oslepla . . .

Vím, že má Manon všecka nervosní je z všeho toho,
že ráda by si lhala starou touhu pro někoho,

a zatím ticho trapné, ticho rozespalé všady
na uvítanou jinému se snáší nad zahrady.

HLAVÁČEK, Karel a Antonín HARTL. Básně. V Praze: Kvasnička & Hampl, 1930, s. 53 https://ndk.cz/view/uuid:02bb7490-ac1f-11e3-b833-005056827e52?page=uuid:9420ae00-d54b-11e3-94ef-5ef3fc9ae867

Über den Gedichtzyklus Kantilene der Rache (Mstivá kantiléna), dessen erstes Gedicht das heutige Gedicht ist, heißt es bei Wikipedia: „Gedichte geschrieben aus der Sicht eines Menschen, der zum Hungern verurteilt ist. Historischer Hintergrund ist der Aufstand der niederländischen Geusen im 16. Jahrhundert.“

Mache es verbisch

Schreibheft Nummer 103 ist soeben erschienen, darin u.a. ein umfangreiches Dossier über den US-amerikanischen Lyriker Gustaf Sobin, zusammengestellt von Jürgen Brôcan.

EIN SELBSTPORTRÄT IM SPÄTHERBST 

... durch diesen immer
breiter werdenden zwischenraum war nie mehr
als diese
späten bienen, die du
hingekritzelt hast: was hing, wie säuglinge, von den

dick
baumelnden büscheln; als diese leeren verb-
übersäten landschaften, die du
gemurmelt hast, sogar
gezischt in

jemand anderes, immer wo-
anderes
ohr.

Aus: Schreibheft 103, August 2024, S. 103 – Das Einzige, was ich am Schreibheft immer wieder bekrittele, ist der fast völlige Verzicht auf Originaltexte übersetzter Werke. Diesen Text habe ich im www gefunden.

A Self-Portrait in Late Autumn

... through that ever-
expanding interval, were never more
than these
late bees you’d
scribble: what hung, like sucklings, from the

fat,
dangling clusters; than these desolate, verb-
studded landscapes you’d
murmur, even
hiss into

some other, some ever else-
where’s
ear.

Mehr Originalgedichte

Hier noch ein paar Auszüge aus den „Kommentaren über die Kultivierung des Lyrischen (als Antwort an einen jungen Dichter, der darum bat)“:

: ein gedicht sollte – von der allerersten silbe, vokabel, atemeinheit an – den leser, die leserin (und der allererste leser ist man selbst) hineinziehen in seine bewegung, die bereits eine solche ist – im gange –, noch ehe das gedicht begonnen hat.

: ziehe die nächste zeile immer aus den verborgenen auswirkungen der vorigen, der kommenden zeile.

das gedicht ist eher verbisch als nomenisch. es ist weniger der ausdruck seiner reise als die reise selbst. als das eigene intermezzo in ununterbrochener bewegung.

: „in der natur gibt es keine nomen“, Fenellosa. doch leider gibt es nomen in der sprache. mache sie leicht und evokativ; wo das einzig möglich nomen ein verbrauchtes ist, nagele ein belebendes adjektiv daran. mach es verbisch.

häutet sich der poetische Körper

Jane Wels

3 Gedichte

Wahrheiten stürzen aus der Deckung, 
knirschen im hellen Haus
wächst blinder Schnee.
Nur die zaudernden Träumer
mähen ihre Worte,
hüten Gräser,
denen ich trauen mag.
Jadegrün häutet sich
der poetische Körper
in den kybernetischen Raum.
Auf deiner Netzhaut
legt er sich offen
in die Fallhöhe.
Worte legen sich auf fremde Zungen, 
knirschen Sand
zwischen die Zähne der Löwenmäulchen. 
Ich ist ein Quadrat 
aus Farbe und Form. 

Aus: Jane Wels: Schwankende Lupinen. Dortmund: edition offenes feld, 2024
Hardcover mit SU, 80 S., 19,00 € ISBN 9783759721150

o himmels blau

Gennadi Ajgi 

(tschuwaschisch Геннадий Николаевич Айхи, russisch Геннадий Николаевич Айги; * 21. August 1934, heute vor 90 Jahren, in Schaimursino, Tschuwaschische ASSR, Sowjetunion; † 21. Februar 2006 in Moskau)

Auftauchen einer Kirche

o
himmels blau
und
feld – ein silberfädchen – feld
/und viel
des goldes
viel/
entlang – die spannung!
und
durch die festigkeit der helle
empor

1981
Возникновение Храма

о
голубое
и
поле – серебряной ниточкой – поле
(и много
золота
много)
вдоль – напряжение!
и
твёрдостью светлости
ввысь

Aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold, aus: Im Grunde wäre ich lieber Gedicht. Drei Jahrzehnte Poesie. Eine Anthologie. Herausgegeben von Michael Krüger und Holger Pils. München: Hanser, 2019 – In Zusammenarbeit mit dem Lyrik Kabinett, S. 97

Morgen werde ich frei sein

Ein wahnsinnig trauriges und genaues Gedicht aus Iran.

Saber Sadipur

mutter
bereite dich auf besuch vor
morgen werde ich frei sein
und überall wird sich die nachricht verbreiten
dass ein gefangener mit hilfe der soldaten
des hinrichtungskommandos
aus den löchern in seinem körper entkommen ist

Aus dem Persischen von Anna Hoffmann, aus: Abwärts! Nr. 52, August 2024, S. 16

Es geht abwärts

Das neue Heft des Berliner Abwärts! ist erschienen, was soll ich sagen? Ich bin froh, dass Texte fremdsprachiger Lyriker drin sind – ich werde darauf zurückkommen. Und der immergrüne Clemens Schittko.

was sich aber sagen lässt… für Franz Jung es geht abwärts/ es geht bergab/ so viel ist sicher/ so viel steht definitiv fest/ oder möchte noch irgendjemand bestreiten/ dass es tatsächlich abwärts geht?/ denn es geht ja nun mal abwärts/ es geht bergab/ nehmt es so hin/ oder lasst es bleiben/ doch was auch immer ihr macht:/ ihr werdet das Unvermeidliche nicht abwenden/ denn es geht nun mal abwärts/ es geht bergab/ das sollte inzwischen allen klar sein/ also machen wir uns doch nicht länger etwas vor/ sondern sehen den Tatsachen endlich ins Auge/ zumal sich das ganze ja ohnehin nicht ändern lässt/ denn es geht nun mal abwärts/ es geht bergab/ aber ich sag’s ja nur/ ich wollte das Thema einfach mal angesprochen haben/ denn letztlich sollte es doch um die Sache gehen/ alles andere ist pure Ideologie/ zumal es ja tatsächlich abwärts geht/ um nicht zu sagen: bergab/ ja, so ist es/ so sieht es nun mal aus/ man muss es eigentlich nur zur Kenntnis nehmen/ auch wenn es an der Tatsache selber nichts ändert/ nämlich dass es nun mal abwärts geht/ um nicht zu sagen: bergab/ es geht letztlich hinab/ und das nicht nur metaphorisch gesprochen/ der Weg führt ein für alle Mal nach unten/ oder anders gesagt:/ es geht abwärts/ es geht bergab/ so muss man es leider feststellen/ aber irgendetwas ist ja bekanntlich immer

Aus: Abwärts! Nr. 52, August 2024, S. 36

Nachbemerkung: Ich frage ja fast täglich die Künstliche Intelligenz von WordPress, und ich wusste, dass sie mit diesem Text ein Problem haben wird. Sie machen Vorschläge zur Verbesserung des Posts (also in diesem Fall des Gedichts).

Der Inhalt scheint eine literarische Rezension oder ein Kommentar zu sein. Er ist etwas dicht und es kann hilfreich sein, den Text zur besseren Lesbarkeit in kleinere Absätze aufzuteilen. Darüber hinaus könnten einige einleitende und abschließende Sätze helfen, Kontext zu schaffen und das Thema des Textes zusammenzufassen. Erwägen Sie das Hinzufügen einiger Überschriften oder Unterüberschriften, um den Leser durch die verschiedenen Teile der Rezension zu führen. Schließlich würde eine kurze Zusammenfassung oder Analyse des rezensierten Werks das Engagement des Lesers erhöhen.

Sch…tt, ich pfeif drauf, den Teufel werd ich.

„Ein zwei drei“

Heute ein Crashkurs durch die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts in französischer Optik.

Jean Cocteau 

(* 5. Juli 1889 in Maisons-Laffitte bei Paris; † 11. Oktober 1963 in Milly-la-Forêt bei Paris) 

Ein zwei drei

Voyez le vieux Goethe il sautille
comme une chèvre, sur le Vésuve ;
il porte un livre grec, un herbier,
un filet à papillons.
Il casse des gros morceaux de Vésuve
et en remplit ses poches.
Car la fin des vacances d'Eckermann
approche.

Henri Heine aimait bien Paris,
le beau juif mort d'amourettes.

Nietzsche achetait ce qu'on trouve
à la gare de Sils Maria,
des livres de Gyp, de Paul Bourget.
Zarathoustra est un vieux guide suisse,
mais son diamant raye tout.

Brûlé aux lampes, le fauteuil
de Weimar, sa sœur ouvre.
On ne peut plus le voir, c'est fini.
Qui trop devine et qui trop parle
sera cruellement puni.
Eins, zwei, drei

Seht den alten Goethe: er hüpft
wie eine Ziege über den Vesuv;
er trägt ein griechisches Buch, ein Herbarium,
ein Schmetterlingsnetz.
Er zerschlägt große Stücke vom Vesuv
und füllt damit seine Taschen.
Denn das Ende von Eckermanns Ferien
naht.

Heinrich Heine liebte gar sehr Paris,
der schöne Jude, der an Liebeleien starb.

Nietzsche kaufte, was man so findet
am Bahnhof von Sils Maria:
Bücher von Gyp und von Paul Bourget.
Zarathustra ist ein alter Schweizer Bergführer,
aber sein Diamant schneidet alles.

Von den Lampen versengt, der Sessel
zu Weimar. Seine Schwester macht auf.
Er ist nicht mehr zu sprechen. Vorbei.
Wer zuviel ahnt und zuviel spricht
wird grausam bestraft.

Aus: Poèmes Français. Französische Gedichte. Nach dem Ergebnis einer Umfrage bei den Mitgliedern der Académie française herausgegeben und übersetzt von Ulrich Friedrich Müller unter Mitarbeit von Henri Perrin. Ebenhausen bei München: LANGEWIESCHE-BRANDT, 1963 (2. Auf., 1. 1960), S. 150f

Zur Übersetzungsmethode heißt es in dem Buch:

Die deutschen Übersetzungen in diesem Buch sollen allein dazu dienen, dem Leser das Verstehen der französischen Gedichte zu ermöglichen. Sie folgen deshalb Zeile für Zeile dem Originaltext und sind – unter Verzicht auf den Reim und die gleiche Zahl der Hebungen im Vers – so präzise gehalten, wie es der deutsche Satzbau und die deutsche Idiomatik irgend erlaubten. Eine ungezwungene rhythmische Annäherung an die Vorlage ist dazu bestimmt, diese Interlinearversion zu beleben und als Lyrik-Übersetzung auszuweisen.