Vicente Aleixandre
(* 26. April 1898 in Sevilla; † 14. Dezember 1984, heute vor 40 Jahren, in Madrid)
FÜR WEN SCHREIBE ICH
I
Für wen schreibe ich? so fragte mich der Chronist, der
Journalist oder ganz schlicht der Neugierige.
Ich schreibe nicht für den Herrn im vornehmen Jackett,
nicht für seinen verärgerten Schnurrbart, nicht einmal
für seinen erhobenen tadelnden Zeigefinger in
den traurigen Wellen der Musik.
Auch nicht für die Reisekutsche noch für ihre verborgene
Dame (hinter Scheiben, wie ein eisiger Strahl der
Glanz des Lorgnons).
Ich schreibe für die vielleicht, die mich nicht lesen. Für jene
Frau, die durch die Straße läuft, als wollte sie die
Tore dem Frührot aufschlagen.
Oder jenen Alten, der auf der Bank des winzigen Platzes
einnickt, während ihn die Abendsonne liebevoll berührt,
ihn umfängt und sanft in ihrem Licht auflöst.
Für alle, die mich nicht lesen, die sich nicht um mich
kümmern, sich aber vor mir in acht nehmen (obwohl
sie mich nicht kennen).
Dieses Mädchen, das im Vorübereilen mich anschaut.
Gefährtin meines Wagnisses, in dieser Welt zu leben.
Und diese Alte, die, vor ihrer Tür sitzend, Leben
erfahren hat, fruchtbar von vieler Leben, von
müden Händen.
Ich schreibe für den zärtlich Verliebten; für ihn, der
mit seiner Qual in den Augen vorüberging; für den,
der ihn nicht anhörte; für den, der im Vorüber, nicht
hinsah; für ihn, der schließlich umfiel, da er fragte
und den man nicht hörte.
Für alle schreibe ich. Für die vor allem, die mich nicht lesen.
Einen um den andern und die Menge. Und für die
Brüste und für die Münder und für die Ohren, wo,
ohne mich zu hören,
mein Wort ist.
Deutsch von Erich Arendt und Katja Hayek-Arendt, aus: Poesiealbum 131. Vicente Aleixandre. Auswahl Richard Pietraß. Berlin: Neues Leben, 1978, S. 30f
PARA QUIÉN ESCRIBO
I
¿Para quién escribo?, me preguntaba el cronista, el periodista
o simplemente el curioso.
No escribo para el señor de la estirada chaqueta, ni para su
bigote enfadado, ni siquiera para su alzado índice admonitorio
entre las tristes ondas de música.
Tampoco para el carruaje, ni para su ocultada señora (entre
vidrios, como un rayo frío, el brillo de los impertinentes).
Escribo acaso para los que no me leen. Esa mujer que corre
por la calle como si fuera a abrir las puertas a la aurora.
O ese viejo que se aduerme en el banco de esa plaza chiquita,
mientras el sol poniente con amor le toma, le rodea y le
deslíe suavemente en sus luces.
Para todos los que no me leen, los que no se cuidan de mí,
pero de mí se cuidan (aunque me ignoren).
Esa niña que al pasar me mira, compañera de mi aventura,
viviendo en el mundo.
Y esa vieja que sentada a su puerta ha visto vida, paridora
de muchas vidas, y manos cansadas.
Escribo para el enamorado; para el que pasó con su angustia
en los ojos; para el que le oyó; para el que al pasar no miró;
para el que finalmente cayó cuando preguntó y no le oyeron.
Para todos escribo. Para los que no me leen sobre todo escribo.
Uno a uno, y la muchedumbre. Y para los pechos y para las
bocas y para los oídos donde, sin oírme,
está mi palabra.
Vicente Aleixandre gehörte zur Generation von 1927. 1977 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Neben dem großen runden 200. gab es gestern noch einen kleinen 30. Jahrestag. Tom de Toys schreibt dazu:
Echte Liebeslyrik als „Erweiterte Sachlichkeit“
Zum 30. Jubiläum der E.S.-Forschung („Erweiterte Sachlichkeit“) erschien jüngst die aktualisierte Neuauflage der Sammlung aller 116 Beispiele für „echte, erfüllte“ Liebeslyrik von Tom de Toys aus den Jahren 1994 bis 2024. Den germanistischen Etikettenschwindel bemerkte De Toys quasi zufällig: zwei Wochen nachdem er das 1.E.S. „WIEDERGEBORENE“ für seine damalige Muse schrieb, fiel ihm auf, dass sogenannte Liebeslyrik meist eigentlich nur Sehnsuchtslyrik ist, auch in seinem eigenen Werk, das damals mit dem kurz zuvor vollendeten 101-teiligen „Ute Uferlos“-Zyklus einen Wendepunkt erreicht hatte. Nach umfangreichen Recherchen stellte sich für ihn heraus: Nur 5% aller sogenannten Liebesgedichte in der deutschsprachigen Literatur seit den Minnegesängen handeln (bis heute!) von der erfüllten Liebe, während der große Rest nur die Sehnsucht nach Liebe oder ihren Verlust und die Vergänglichkeit thematisiert. Sowohl Standardanthologien als auch Einzelgedichtbände werden aber trotzdem mit dem Gütesiegel „Liebeslyrik“ versehen. Nur sehr selten erwähnen Herausgeber im Nachwort eher beiläufig, dass die Liebe zumeist literarisch unerfüllt bleibt. De Toys achtet daher in seinem mittlerweile knapp 3000 Texte umfassenden Werk darauf, ob ein neu entstandenes Gedicht das „direktpoetische“ Dokument einer erfüllten Liebesbegegnung ist oder doch nur über Liebe als ein abwesendes Gedankenobjekt anstatt realer Erfahrung spricht.
Tom de Toys,12.12.1994, 1.E.S.
WIEDERGEBORENE
wir nahmen
uns
in uns
und schauten
in den augen
in den mündern
das beseelte
mich mit dir und
dich mit mir und
hatten hunger
aus winternächten
da wir zwischen
häuser rannten
die den krieg
erinnern wohnen
überall in uns
verblieben
verblieben
Entnommen aus: „ZIELE DER ZÄRTLICHKEIT“ (116 E.S.-Beispiele 1994-2024)
2004 schrieb eine Greifswalder Studentin, Franziska Krüger, eine Hausarbeit „Der richtige Umgang mit Sprache oder: wie geht Sprache mit Liebenden um“ in meinem Seminar „Lyrikgeschichte V: Von Brecht bis zur Gegenwart“. Ein Auszug daraus:
Die Liebeslyriktheorie „Erweiterte Sachlichkeit“ steht für das Entwerfen einer Poesie, die das Erleben, die Wirklichkeit des Menschen, pur wiedergibt. (…) Da Liebe geschieht, sollte auch im Geschehen über sie geschrieben werden, um eine intensive und echte Liebesbegegnung sprachlich so authentisch wie möglich nachzuzeichnen. Die Motivation zum Schreiben ist folglich das Leben selbst, denn ohne jenes gäbe es keine beschreibbare Grundlage. (…) Das Leben selbst steht im Mittelpunkt und es bildet die Grundlage für De Toys‘ Dichtung, sodass er zu dem Schluss kommt, „Direkte Dichtung“ sei immer mit dem direkten, dem eigentlichen Leben in seiner Präsenz verbunden, da der Mensch als Teil der Wirklichkeit sich dieser nicht entziehen kann. (…) Wenn die echte erfüllte Liebeslyrik die Aufdeckung und die Benennung der wahren Gefühle ist, dessen, was in diesem Moment, in der „Gegenwart“, in der „Existenz“, ganz authentisch geschieht, kann der „Kontakt“ wie die „Kommunikation“ mit anderen nur im „Bewusstsein“ all dessen vollzogen werden. (…) Die in manchen Überschriften vorhandenen Klammern ermöglichen viele Lesarten. Außerdem deuten die fehlende Interpunktion sowie die besondere Vortragsweise des Autors darauf hin, daß von den LeserInnen selbst Akzente gesetzt werden sollen, um den potenziellen Bedeutungen des Titels nahezukommen, was durchaus dazu auffordert, weiterzudenken, nachzulesen, eigene Verbindungen herzustellen. Hinzu kommt, dass was im Rausch der Gefühle geschrieben wurde, auch in diesem gelesen werden soll, ohne einengende Regelungen.
Komplett hier: https://poemie.jimdofree.com/liebeslyrik/gastbeitrag-franziska-kr%C3%BCger/
Ein Freund schrieb neulich, die Anthologie der Lyrikzeitung sei eigentlich (m)ein Pantheon. Das Wort trifft vielleicht etwas, aber insgesamt finde ich es nicht glücklich. Das sind doch nicht meine Götter. Ich poste manchmal Gedichte, weil ich sie schon lange mag oder eben entdeckt habe, manchmal zufällig oder weil ich etwas zu einem Anlass suche*) – viel öfter aber aus einer Art Sammelwut. In meiner Bibliothek finden sich tausende Dichter in Einzelbänden oder Anthologien, die Weltbibliothek im Internet hat abertausend weitere. Warum nicht von (fast) jedem wenigstens einmal ein Gedicht auswählen? Es müssen nicht immer Götterwesen sein. Unsterbliche? Höchstens in dem Sinn, dass fast alles auffindbar ist, solange die Welt(bibliothek) existiert. Angeblich haben über 2000 Leute die Lyrikzeitung abonniert. Ein paar hundert klicken zufällig auf der Suche nach irgendwas vorbei, ein paar Dutzend gezielt, eine Handvoll reagiert fast jeden Tag auf meine wachsende Anthologie. (Ihnen danke ich sehr!) Es ist nicht möglich, mit 365 Gedichten im Jahr von allen Seiten Beifall zu bekommen. „Auch mir selbst gefällt es“ manchmal „nicht“, sage ich mit Ernst Jandl. Ob das „gute“ oder „schöne“ Gedichte sind, was juckt es mich?
Eine Anthologie, der tausend Leute jeden Tag begeistert zustimmen, wenn sie denn möglich wäre, wär sie bestimmt langweilig. Warum soll man denn das und nur das bringen, was sowieso schon alle lieben? Als Thomas Kling seine Anthologie „Sprachspeicher“ veröffentlichte, monierte ein Kritiker, dass vieles fehle, was dahingehörte. Warum will er denn immer wieder das bekommen, was er schon hat? Warum freut er sich nicht einfach über das eine oder andere, was bei Klings Auswahl überraschte? Ich bin für absolute Neugier, Neu-Gier, Diversität. An einem schönen Tage läßt sich ja fast jede Sangart hören, und die Natur Kultur, wovon es her ist, nimmts auch wieder.
Der heutige Dichter gehört nicht zu meinen Göttern (Hölderlin und Jandl schon). Ich habe ihn mir angesehn, weil er just vor 200 Jahren geboren wurde. Hier ist ein Gedicht von Rudolph Genée (1824-1914). Lest es mit Vergnügen oder mit Stirnrunzeln, freut oder ärgert euch, merkt ihn euch oder vergesst ihn – hier ist meine Auswahl für die nächste Minute Lektüre.
*) Manchmal verrate ich den Anlass und öfter nicht.
Rudolph Heinrich Genée (er selbst nannte sich Rudolph Genée, ab ca. 1910 fast ausschließlich öffentlich als Rudolf Genée bezeichnet, Pseudonym: P.P. Hamlet, * 12. Dezember 1824 in Berlin; † 19. Januar 1914 ebenda) war ein deutscher Schriftsteller, Theaterhistoriker und Rezitator. Mehr davon hier.
Oh Zeus!
Oh Zeus! ich wollte, ich wäre dein Blitz!
Du solltest nicht lange mich halten!
Ich wollte vertreiben der Dummheit Nacht
Mit meinen Flammengestalten.
Oh Zeus! ich wollte, ich wäre dein Blitz!
Trotz alten und neuen Göttern, –
Wie wollt' ich die ganze Lügnerbrut
Mit einem Schlag zerschmettern!
Oh Zeus! ich wollte, ich wäre dein Blitz!
Ich würde den Weg schon finden,
Zu heller, lodernder Liebesglut
Ein kaltes Herz zu entzünden!
Aus: Große und kleine Welt. Gedichte von Rudolph Genée. Leipzig: Heinrich Hübner, 1861, unpaginiert (S. 21)
„Víctor Balaguer (* 11. Dezember 1824 in Barcelona; † 14. Januar 1901 in Madrid) war ein spanischer Dichter und Historiker.“, sagt die deutsche und ähnlich die spanische Wikipedia.
Die katalanische Ausgabe dagegen:
Víctor Balaguer i Cirera (Barcelona, 11. Dezember 1824 – Madrid, 14. Januar 1901), selbsternannter Troubadour von Montserrat, war ein liberaler Politiker, Journalist, romantischer Schriftsteller, Dichter, Dramatiker und katalanischer Historiker. Er war einer der wichtigsten katalanischen Romantiker schlechthin und einer der Förderer der katalanischen Renaissancebewegung.
https://ca.wikipedia.org/wiki/V%C3%ADctor_Balaguer_i_Cirera
Wann gewöhnen wir uns daran, dass es in Spanien mehrere Literaturen gibt? Der katalanische Dichter und Politiker wurde heute vor 200 Jahren geboren. Leider habe ich nur einen Band aus dem 19. Jahrhundert. Ich bringe zum Anlass ein programmatisches Gedicht über die Renaissance der katalanischen Kultur.
Ein paar Erklärungen zuvor. Castellanisch (wir sagen heute Kastilisch) ist das heutige Spanisch, das aus dem Dialekt Kastiliens im Zentrum der iberischen Halbinsel hervorging. Im Mittelalter aber dichteten die Trobadors Kataloniens nicht in kastilischer, sondern in okzitanischer Sprache, die dem damaligen Katalanisch sehr nahe stand. Erst der Dichter Ausias March (ca. 1397-1459) ging zur katalanischen Volkssprache über. Die katalanische Dichtung hatte ihr Goldenes Zeitalter um 1400, gut 200 Jahre vor dem Siglo de Oro der kastilischen. Danach aber verstummte die katalanische Literatur und Sprache unter der Übermacht des Kastilischen und erlebte erst im 19. Jahrhundert ihre Renaissance. Balaguer regte mit seinen Studien zur katalanisch-aragonesischen Geschichte diese Rückbesinnung an. In diesem Gedicht feiert er die Wiederbelebung der längst vergessenen Blumenfeste – Jocs Florals (Joch Floral). Limousinisch verwendet er offenbar synonym zu provenzalisch-okzitanisch-katalanisch, der Sprache der alten Dichter. Die kastilische Sprache ist süß und wohllautend, aber ich singe jetzt in der Sprache der Väter.
Im deutschen Text ist das Gedicht nicht in Strophen eingeteilt, das Original konnte ich nicht finden. Reim- und Satzbau sowie Gedankengang schreiten aber in Vierzeilenschritten, so dass ich Leerzeilen als Lesehilfe eingefügt habe.
An die Mantenedors der Jochs Florals in Valencia des Jahres 1859.
Es wird mein Mund Euch murmeln Liebessänge,
Habt in der Spiele Fest Ihr einen Platz für mich.
Nur meiner Väter Klänge
Ein limousin'scher Troubadour bring' ich.
Von der Provence diese Spiele stammen,
Und da die Pforten ihnen offen stehn,
So hiess es die Vergangenheit verdammen,
Wollt' provencal'sche Harfen man verschmähn.
Dem Honig des Hymettos zu vergleichen
Ist castellan'scher Sprache süsser Klang,
Und Herz und Ohr nimmt auf den wohllautreichen,
Als ob zur Erde stieg ein Himmelssang;
Ich aber sing' in jener Sprache wieder,
In der der Troubadoure Poesie
Erklungen, und es tönten ihre Lieder
Der Welt als wundersüsse Harmonie.
Ihr Dichter, die ihr heut des Ruhmes Bahnen
Der Jugend öffnet an des Turia Strand,
Entrollt vor ihr die edelste der Fahnen,
Euch, den Gekrönten, sei mein Gruss gesandt!
Die als der Väter theuerstes Vermächtniss,
Als Schatz der Heimath, ihre Sprache ehrt,
Als treue Enkel wahret ihr Gedächtniss,
Sei brüderlicher Gruss mir nicht verwehrt!
Es wird mein Mund Euch murmeln Liebessänge,
Habt in der Feste Spiel Ihr einen Platz für mich;
Ich aber bring' nur meiner Väter Klänge,
Nur limousin'scher Troubadour bin ich.
Aus: Catalanische Troubadoure der Gegenwart. Verdeutscht und mit einer Übersicht der catalanischen Literatur eingeleitet von Johannes Fastenrath. Leipzig: Carl Reissner, 1890, S. 43f

Nachtrag: Anne Bennett hat dankenswerterweise den katalanischen Originaltext von 1861 aufgespürt (siehe im Kommentar). Und ich bin froh zu sehen, dass ich das richtige Gespür hatte – das Original ist tatsächlich in vierzeilige Strophen gegliedert, die der Übersetzer ignoriert hat.
Eduard Mörike
(* 8. September 1804 in Ludwigsburg, Württemberg; † 4. Juni 1875 in Stuttgart)
Ein Gedicht des jungen Goethe endet mit der Zeile: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent!“ (mehr darüber). Der Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki konnte darüber gar nicht lachen. Vielleicht hatte er keinen Humor. Auf alle Fälle hat er da im Eifer ein ästhetisches Grundprinzip übersehen. Ein literarischer Mordaufruf ist Literatur und kein Mordaufruf. Es war vielleicht nicht immer klar, aber im Lauf der Literaturgeschichte haben Ästhetiker und Juristen diese Lektion gelernt. (Wohl nicht in jedem Land, wie – leider nicht zuletzt – der reale Mordaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und die realen Morde an Schriftstellern in Stalins Sowjetunion und bis heute andernorts gezeigt haben.). Jedenfalls hat Eduard Mörike keinen Aufruf zur Selbstjustiz verfasst.
ABSCHIED
Unangeklopft ein Herr tritt abends bei mir ein:
»Ich habe die Ehr', Ihr Rezensent zu sein.«
Sofort nimmt er das Licht in die Hand,
besieht lang meinen Schatten an der Wand,
rückt nah und fern: »Nun, lieber junger Mann,
sehn Sie doch gefälligst mal Ihre Nas' so von der Seite an!
Sie geben zu, daß das ein Auswuchs is.«
»Das? Alle Wetter — gewiß!
Ei Hasen! Ich dachte nicht,
all mein Lebtage nicht,
daß ich so eine Weltnase führt' im Gesicht!«
Der Mann sprach noch verschiednes hin und her,
ich weiß, auf meine Ehre, nicht mehr,
meinte vielleicht, ich sollt' ihm beichten.
Zuletzt stand er auf; ich tat ihm leuchten.
Wie wir nun an der Treppe sind,
da geb' ich ihm, ganz froh gesinnt,
einen kleinen Tritt,
nur so von hinten aufs Gesäße, mit —
alle Hagel! War das ein Gerumpel,
ein Gepurzel, ein Gehumpel!
Dergleichen hab' ich nie gesehn,
all mein Lebtage nicht gesehn,
einen Menschen so rasch die Treppe hinabgehn!
Aus: Deutsche Gedichte. Von Walther von der Vogelweide bis Gottfried Benn (Piper Taschenbuch, Band 3151, 2001) Hrsg. von Hans Joachim Hoof, S. 413
Ludwig Fels
(* 27. November 1946 in Treuchtlingen; † 11. Januar 2021 in Wien)
Konversation
Sag mir deinen Namen! Heißt du wie ich?
Bist du mein Freund? Oder mein Bruder?
Zieh deinen Rock aus! Knöpf die Bluse auf!
Ich bin voller Hunger. Komm, sag
mir etwas Liebes, Arschloch z. B., oder sonstwas!
Ich verlang doch nichts. Keinen Gesundheitspaß
keine Gesichtskontrolle.
Sag mir deinen Namen, verrat mir das Alter
deiner Kinder, erzähle von deinem Mann.
Wir machens nebenbei, jeder für sich, im Kopf.
Aus: Ludwig Fels, Blaue Allee, versprengte Tataren. Gedichte. München: Piper, 1988, S. 59
Helmuth Frauendorfer
(* 5. Juni 1959 in Voiteg, Banat, Rumänien; † 2. Dezember 2024 in Fürth)
Lage(r) bericht 86. Pitești
Kein Verwandter hat mich je
zu seinem Erben erklärt.
Keinem noch mußt ich
die Hinterlassenschaft verwalten.
Und jetzt,
Zuspätgeborner, Hinein-
und gleich wieder Hinweg-
geborner,
stehst du auf der Wiese des Exils.
Mappen unterm Arm, ausgesetzt
den Winden, die an deinen Kleidern
nicht zerrn; aber in Kopf & Brust,
deinem Exil.
Aus: Das Land am Nebentisch. Texte und Zeichen aus Siebenbürgen, dem Banat und den Orten versuchter Ankunft. Hrsg. Ernest Wichner. Leipzig: Reclam Leipzig, 1993, S. 150.
Hugo Zuckermann
(geboren 15. Mai 1881 in Eger, Österreich-Ungarn; gestorben 23. Dezember 1914 in Eger)
GHETTOLIEDCHEN
RACHEL, o Rachel, die Welt ist so schön;
Rachel, sag', hast du die Welt schon geseh'n?
Rot blüht der Rosenstrauch, grün ist der Klee,
Blau sind die Veilchen auf blumiger Höh',
Weiß auch den Fleck, wo die prächtigsten steh'n.
Rachel, o Rachel, die Welt ist so schön!
Rachel, o Rachel, die Welt ist so weit,
Trägt jetzt auch selber ein bräutliches Kleid.
Hier ist's so düster, so kalt und so eng,
Mutter ist tot, und der Vater ist streng.
Draußen ist Frühling, ist Platz für uns beid'.
Rachel, o Rachel, die Welt ist so weit!
Aus: Hugo Zuckermann, Gedichte. Wien und Berlin: Löwit, 1919, S. 19
Hendrik Jackson
Im Licht der Prophezeiungen V
Kratzt euch am Schädel mit feiner Nadel, bis die Urmusik hervor-
springt. Müdigkeit kam nicht mehr auf. im Lichte der Wetter-
vorhersagen eine übermäßige Gespanntheit, umkippend in Schlaf,
Benommenheit und eine Handvoll alter, stolzer Verse. Vorwärts-
tasten am Schädel, aufscheuchend. drückt zuversichtlich Kolibris
an die Brust, seht, was niemand sah ... die immergleichen Wege zum
See, die nachttrüben Fahrten ins Waldige, Flugkurven berechnend,
Lokomotivqualm verwünschend.
bei ihrem Absinken wurden höhere Luftschichten mehrfach hin und
her verfrachtet. grau-gelbe Lichttönung der Wolkenschlieren, wie
Sandstein geschichtet, an den Rändern fransig, darunter Masten
ins All gestakt, fernhin. Turbulenzen machten euch vorübergehend
schlucken – und glücklich fast, dass aus allem gleich Sentiment
würde – die befremdlichen Eltern.
ins Halbdunkle brach --- (noch nicht!) Traumgang durch die Berge.
schweife Krummsäbel durchschneiden die Luft, ein hohes Sirren.
(Aphasie)
Aus: Hendrik Jackson, Im Licht der Prophezeiungen. Gedichte. Berlin: kookbooks, 2012, S. 11
Der Dichtersänger Oswald von Wolkenstein (* 1377 – † 2. August 1445) begegnet mehrmals im Werk des Dichters Thomas Kling. Im Band „Fernhandel“ (Köln: DuMont 1999) stehen drei 1997/98 entstandene Gedichte.
Thomas Kling
(* 5. Juni 1957 in Bingen am Rhein; † 1. April 2005 in Dormagen)
Oswald von Wolkenstein sieht sich
Ein hoher rang ward für mich auserwählt:
untergraf von Türkei;
genügend leute gabs, die meinten
ich sei ein oriental'scher adeliger gewesen.
ein maurisches gewand, rot von gold,
ein kostbares, gab mir könig Sigmund,
in dem ich mich bestens zeigen konnt
und arabisch sang und tanzte.
Wolkenstein sieht Paris
In Paris: viel tausend menschen
in den häusern, gassen, straßen,
kinder, frauen und männer – dichtes gewirr –
standen gedrängt in reihen spalier;
die sahen sich alle könig Sigmund an,
den verdienten römischen mann
und nannten mich einfaltspinsel
in meiner narrenkappe.
Wolkenstein sieht Heidelberg
Nach Heidelberg reit ich zu meinem mächtigen herrn.
fünf kurfürsten, junge-junge, würd ich da vorfinden: von Köln,
Mainz und Trier, die drei bischöfe, hohe repräsentanten,
pfalzgraf bei Rhein, markgraf v. Brandenburg – so leute halt.
Ich hoch auf den Berg, ins zentrum rein, bis vor die tür
von herzog Ludwig, den ich vor allen andren fürsten schätz wg.
seinem charakter, seiner göttlichen freigebigkeit. kam durch zu ihm:
besten wein hat er mir versprochen.
Sofort mußt ich auftreten, voller sound, stück auf stück.
das ende vom lied: in seine suite wurd ich zur übernachtung
einquartiert. fand ich prima. so ein geschenk und
solche ehre!, haben meine freunde nie sich einfalln lassen.
Mit mantel und sakko wurd ich puppenmäßig angezogen:
füchse und marder ersetzen mir den reiseloden.
ein pelzgefütterter hut kam mir aufs haar geflogen –
was er mir riet? mußt ich schwörn für mich zu behalten.
Aus: Thomas Kling: Gedichte 1992-1999 (Werke 2) Hrsg. Peer Trilcke. Berlin: Suhrkamp, 2020, S. 330f
Gertrud Kolmar
(geboren am 10. Dezember 1894 in Berlin; ermordet Anfang März 1943 in Auschwitz)
Die Dichterin
Du hältst mich in den Händen ganz und gar.
Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt
In deiner Faust. Der du dies liest, gib acht;
Denn sieh, du blätterst einen Menschen um.
Doch ist es dir aus Pappe nur gemacht,
Aus Druckpapier und Leim, so bleibt es stumm
Und trifft dich nicht mit seinem großen Blick,
Der aus den schwarzen Zeichen suchend schaut,
Und ist ein Ding und hat ein Dinggeschick.
Und ward verschleiert doch gleich einer Braut,
Und ward geschmückt, daß du es lieben magst,
Und bittet schüchtern, daß du deinen Sinn
Aus Gleichmut und Gewöhnung einmal jagst,
Und bebt und weiß und flüstert vor sich hin:
»Dies wird nicht sein.« Und nickt dir lächelnd zu.
Wer sollte hoffen, wenn nicht eine Frau?
Ihr ganzes Treiben ist ein einzig: »Du ...«
Mit schwarzen Blumen, mit gemalter Brau',
Mit Silberketten, Seiden, blaubesternt.
Sie wußte manches Schönere als Kind
Und hat das schönre andre Wort verlernt. –
Der Mann ist soviel klüger, als wir sind.
In seinen Reden unterhält er sich
Mit Tod und Frühling, Eisenwerk und Zeit;
Ich sage: »Du ...« und immer: »Du und ich.«
Und dieses Buch ist eines Mädchens Kleid,
Das reich und rot sein mag und ärmlich fahl,
Und immer unter liebem Finger nur
Zerknittern dulden will, Befleckung, Mal.
So steh' ich, weisend, was mir widerfuhr;
Denn harte Lauge hat es wohl gebleicht,
Doch keine hat es gänzlich ausgespült.
So ruf' ich dich. Mein Ruf ist dünn und leicht.
Du hörst, was spricht. Vernimmst du auch, was fühlt?
Aus: Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. Hrsg. Regina Nörtemann. Göttingen: Wallstein, 2003. 3 Bd. im Schober. Bd.: Gedichte 1927-1937, S. 89f. – Erstdruck: Die Frau und die Tiere. Berlin: Jüdischer Buchverlag Erwin Löwe, 1938. Erster Raum, S. 7f
Breyten Breytenbach (* 16. September 1939 in Bonnievale, Südafrikanische Union; † 24. November 2024 in Paris) war ein französischer Schriftsteller, Maler und Anti-Apartheid-Aktivist südafrikanischer Herkunft. https://de.wikipedia.org/wiki/Breyten_Breytenbach
Flügel verbrannt
wenn du an dein Land denkst
siehst du
Flechten und eine Brille; einen alten Hund voller Blut;
und ein Pferd ersoffen im Fluß; einen Feuerberg;
einen Raum mit zwei zahnlosen Menschen im Bett;
dunkle Feigen auf dem Sand; einen Weg, Pappeln,
Haus, Blau, Wolkenschiffe;
Schilfrohr; ein Telefon;
siehst du
wenn du an dein Land denkst,
siehst du
wir müssen stark sein; Eingeweide voller Krater und Fliegen;
der Berg ist ein Schlachthof ohne Mauern;
über den tausend Hügeln von Natal
die Fäuste der Krieger wie Fahnen;
Gefangene liegen im Schlamm: siehst du
Minen, aus denen Sklaven hervorquellen; der Regen
steht prasselnd in der Höhe wie Funken über dem Abend;
im Schilfrohr verfault das Skelett des Zwerges
wenn du an dein Land denkst
ist das die Evakuierung allen Denkens;
wenn die Luft draußen rein ist, reißt du die Fenster auf,
siehst du, daß die Sterne Pfeile ins Nichts sind;
hörst du, leise wie Getuschel, hörst du?
«wir sind das Volk. wir sind schwarz, aber wir schlafen nicht.
wir lauschen im Finstern, wie die Diebe in den Bäumen fressen.
wir lauschen unserer Kraft, die sie nicht kennen können. wir
lauschen
dem Herzen unseres Atems. wir hören, wie die Sonne
hinter dem Schilfrohr der Nacht zittert. wir warten, bis
die Fresser faul und gesättigt von den Ästen fallen –
einen Fresser wird man an seinen Früchten erkennen –
oder wir werden den Schweinen auf den Bäumen das Klettern
beibringen.»
Aus dem Afrikaans von Rosi Bussink. Aus: Atlas der neuen Poesie. Hrsg. Joachim Sartorius. Reinbek: Rowohlt, 1995, S. 303f
Vlerkbrand
wanneer jy dink aan jou land
sien jy
vlegsels en'in bril; 'in ou hond vol bloed;
en 'n perd versuip in die rivier;
'n berg met vuur;
'n ruimte met twee mense sonder tande in die bed;
donker vyge teen die sand; 'n pad, populiere,
huis, blou, wolkskepe;
riete; 'n telefoon;
sien jy
wanneer jy dink aan jou land
sien jy
ons moet sterk wees; binnegoed vol kraters en vlieë;
die berg is'n slaghuis sonder mure;
oor die duisend heu-wels van Natal
die vuiste van die krygers soos vaandels;
gevangenes lê in die modder: sien jy
myne waaruit slawe peul; die reën
is knetterend hoog soos vonke bo teen die aand;
tussen die riete vrot die skelet van die dwerg
wanneer jy dink aan jou land
is dit die evakuasie van alle denke;
as dit suiwer is buite gooi jy die vensters oop,
sien jy die sterre is pyle in die niet;
hoor jy, klein soos 'n gerug, hoor jy?
‹ons is die volk. ons is swart, maar ons slaap nie.
ons luister in die donker hoe vreet die diewe in die bome.
ons luister na ons krag wat
hulle nie kan ken nie. ons luister
na die hart van ons asem. ons hoor die son
bewe agter die nag se riete. ons wag totdat
die vreters vrot en versa-dig uit die takke val -
'n vreter sal aan sy vrugte geken word -
of ons sal die varke in die bome leer klim.›
Ebd.
Im Bremer Nachlass des Bildhauers und Grafikers Gerhard Marcks befinden sich auch zwei schmale Bände mit Kurzgedichten und Aphorismen, aus denen 1984 eine Auswahl veröffentlicht wurde. Darunter sind Aphorismen und Epigramme zur Kunst:
DAS Schöne ist nicht auch das Verständliche;
Romantik ist die Liebe zum Unverständlichen im Schönen.
BUSCHMANN zeichnete ein Bild
auf den Stein und starb.
Sonne ging auf und unter
viele viele Mal.
Toten Buschmanns Lust
lacht noch heut uns an.
Sonne geht auf und unter.
1962
Gerhard Marcks: Gedichte. Ausgewählt von Martina Rudloff mit einem Nachwort von Günter Busch. Bremen: Gerhard Marcks Stiftung, 1984, S. 13 und 12.
und zum Leben
DICH nimm nicht allzu wichtig:
selbstisch ist nichtig!
Sei nur der Welt gewillt,
sie ist dein Spiegelbild!
1947
(Ebd. S. 131)
Lyrisches
SCHNEEHARSCH kracht unter meinem Schritt
der runde Mond hängt zwischen kahlen Bäumen
laut ruft im leeren Raum der Kauz.
Gestorbne Nacht und ungeborner Tag.
1969
(Ebd. S. 114)
Philosophisches
EIN Kuhklacks fiel aufs Gras — das schreit:
Ich bin verloren in Ewigkeit!
Der hohe Baum daneben spricht:
Sei still! dir fehlt die Übersicht!
(Ebd. S. 125)
und die Lust am Herumblödeln (wenn Sie’s vornehmer wollen, sagen Sie Nonsens) fehlt auch nicht:
DRACHE steige
dumme Schnur
hindert nur,
flöge leicht,
flöge frei!
Schnur entzwei:
Drache fliegt,
Drache fällt
und zerschellt;
Drache liegt.
1954
(Ebd. S. 34)

Doris Runge
(* 15. Juli 1943 in Carlow)
könnte ich
den zorn halten
ihn einspannen
wie einen ochsen
ich würde
das brachliegende
tiefstumme
weiße
papier
aufreißen
wind säen
schwarze lettern
zerbrechen
aus den bindungen
reißen
könnte ich den zorn halten
ich würde
wehrwölfig umgehen
in unheiligen nächten
hört ihr das heulen röcheln reißen
riecht ihr das warm verschüttete
seht ich bin auf die pfoten gesprungen
könnte ich den zorn halten
ich vollbrächte
ein äußerstes
ich finge die silberne kugel
aufrecht
Aus: Doris Runge, zwischen tür und engel. Gesammelte Gedichte. Gesammelt und mit einem Nachwort von Heinrich Detering. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2013, S. 213
Neueste Kommentare