diese sprache existiert nicht

Valzhyna Mort 

(belarussisch Вальжына Морт, Walshyna, Valžyna Mort, geboren 1981 in Minsk)

DIE WEISSRUSSISCHE SPRACHE II

jenseits deiner grenzen, mein land,
beginnt ein geräumiges kinderheim.
und du führst uns dahin, belarus.
vielleicht kamen wir ohne beine zur welt,
vielleicht beten wir zu den falschen göttern,
vielleicht leidest du unseretwegen,
vielleicht sind wir unheilbar krank.
vielleicht hast du nichts uns zu ernähren,
und wir verstehen nicht einmal zu betteln,
vielleicht hast du uns nie gewollt,
aber auch wir konnten dich
anfangs nicht lieben.

deine sprache ist so klein,
daß sie noch kein gespräch führen kann.
und du, belarus, in hysterie,
dir scheint stets,
daß die hebammen die wickel verwechselt haben.
daß du jetzt ein fremdes kind stillen mußt,
eine fremde sprache tränken mit deiner milch?
eine sprache, die blau angelaufen auf der fensterbank liegt,
oder diese sprache oder das grau des vergangenen jahres
oder dieses grau oder nur den schatten eines heiligenbilds
oder diesen schatten oder einfach nichts.

es ist keine sprache,
denn sie hat kein system.
sie ist wie ein plötzlicher, nicht wählerischer tod,
wie ein tod, von dem man nicht sterben kann,
wie ein tod, von dem tote zum leben erwachen.

eine sprache, derentwegen man kinder in die pfanne legt,
eine sprache, derentwegen der bruder den bruder tötet,
eine sprache, vor der niemand sich retten kann,
eine sprache, die männliche krüppel gebiert,
bettlerinnen gebiert,
kopflose tiere gebiert,
kröten mit menschlichen stimmen gebiert.

diese sprache existiert nicht,
sie hat nicht einmal ein system.
ein gespräch mit ihr zu führen ist unmöglich –
sie schlägt einem sofort in die fresse.
selbst an feiertagen
bringst du diese sprache nicht unter die leute,
du schmückst sie mit keinem feuerwerk mehr
oder neonschild.

doch dieses system kann mich
an meinem AKKORDEON
lecken ...

und mein akkordeon
wie es den blasebalg auseinanderzieht –
wie berggipfel –
so ist es, schau, mein akkordeon!
es frißt aus der hand, es leckt und wie ein kind
geht es mir nicht vom schoß,
doch wenn nötig zeigt
es sein tralala!

Deutsch von Katharina Narbutovič, aus: Valžyna Mort: Tränenfabrik. Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2009, S. 74f

Zu Hause sprechen wir nur Russisch. In der vierten Klasse bekommen wir weißrussische Sprache und Literatur als Fach bis zum Schulabschluß und noch ein, zwei Jahre an der Universität. Richtiges Weißrussisch höre ich in der Schule nur im Fach Weißrussische Geschichte. (…)

Anstatt ihren natürlichen Platz als Sprache einzunehmen, will die weißrussische Sprache den Platz der Musik besetzen, die ich niemals zu beherrschen vermochte. Sie wird zur gehorsamen Musik, die einen Schritt, ein Wort, eine Note im voraus weiß, was ich suche; eine Sprache, die hinter der Musik herläuft wie hinter dem Weißen Kaninchen , immer einen Schritt entfernt von dem wunderschönen Fall.

Aus dem Nachwort der Autorin, a.a.O. S. 84-86

Schluss jetzt mit Tischdeutsch

Teil 10 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Das Gedicht dekonstruiert die Idee fester Bedeutungen – mit einem spielerischen, fast absurden Ton. Schluss mit Luther!

Text 10 
Gottgewollt ist Messungenauigkeit.
Also Schluss mit der Tischrede von Brot, Buch, Tisch. 
Aber da steht er, er steht noch 
transmutiert von Holz in Holz

Beweis:
Brot ist Signaturmittel gegen Hunger 
Und Wein gegen Satzbau, 
Yeah: Schluss jetzt mit Tischdeutsch 
Er steht aber da. Guckt, als sei er ein Tisch, der Tischgespräche führt. 
Thesen zum Brot, 
Erstens ist der Tisch eine Behauptung und hat Posaunenfüsse aus Hymnen. 
Die Hymnen sind ununterscheidbar 
Posaunen nichts als Hilfsvariablen für Naturwissenschaftler.
Zweitens: Die Posaune – auf den Tisch geworfen ergibt sich aus dem Wort, 
das Wort gespiegelt am Buch zum Brot transmutiert.
Das Brotelement, Elixier, vermehrt Brote

Nichts weiter will er sein als Tisch, sagt er 
ist nur voll von Sätzen – unbewiesen wie:
Quanten sind Gegenmittel gegen Quanten 
(und der Pfarrer ein bekennender Quantenmechaniker)

Kugeln sind Gegenmittel gegen kartesische Koordinaten –
Beweis: noch nie hat ein Mensch Atom in Würfelform gesehn 
Gegenbeweis: noch nie hat ein Mensch Atome gesehn.

Zum 11. Teil

Social Theory

Sarah Manguso 

(* 12. Februar 1974 in Wellesley bei Boston, Massachusetts) 

Theorie der Gesellschaft

Es war Zeit für eine Theorie der Gesellschaft.
Die Leute standen einfach herum.
Die Erfindung neuer Sprachen stand unter Todesstrafe:
für einen selbst, für die Familie und neun verwandte Familien.
Ich stellte Drinks auf Tische
und verzog mich wieder.
Das Klavier, das auf der Seite lag,
entsprach dem Grad meiner Unglücklichkeit.
Ich versuchte nichts weiter als meinen Drink zu finden
und mich ohne Lügen mitzuteilen –
die ganze Zeit sangen die Leute
zu dem Staub auf dem Klavier, und ich schrieb
die letzten wahren Sätze auf der Welt.
Wenn aus mir nichts werden würde,
besäße ich wenigstens das.
Etwas dunkles Fremdes, vielleicht meine Theorie,
stand herum, die Hände in den Jackentaschen.
Es nippte an allen meinen Gläsern.
Ich konnte nichts dagegen tun.

14.05.2009

Übersetzung: Ron Winkler. Aus: Komm her o Klarheit! luxbooks 2009. Auch in: Schwerkraft. Junge amerikanische Lyrik. Hrsg. Ron Winkler. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2007 (mit geringfügigen Abweichungen)

Social Theory

It was time for a social theory.
People were just standing around.
The penalty for creating new languages was death:
for oneself, one's family, and nine related families.
I was putting drinks on tables
and walking away from them.
The piano lying on its side
represented the degree of my unhappiness.
I was only trying to find my drink
and to communicate without lying—
All the while the people sang
to the dust on the piano and I was writing
the last sentences in the world that were true.
If I didn't become anything,
at least I would have that much.
A dark stranger, maybe my social theory,
stood around with its hands in its jacket pockets.
It was drinking from all my glasses.
I couldn't stop it.

14.05.2009

Aus: Komm her o Klarheit! luxbooks 2009
Original aus: The Captain Lands in Paradise. Alice James Books, 2002

Dies und mehr online bei Poetenladen

Denn ums Verstehen, so viel macht Manguso gleich zu Anfang klar, geht es nicht. Es geht ums Erinnern.

Gregor Dotzauer, Tagesspiegel 30.5.2010

Das Beste an Luther

Teil 9 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Das Gedicht setzt sich kritisch mit der Rolle von Wissenschaft, Religion und Sprache auseinander und fragt, ob Erkenntnis ein geordnetes System oder ein Akt der Zerstörung und Neuformung ist. Oder: d. Verf. (od. d. lyr. Ich) hält nicht viel von Luther.

Text 9 
Wenn Tischgespräch führt zur Alchemie
ungeschaffen ein Golem aus Holz wie Fraktur auf
Tischdeutsch im Raum für Buch und Brot,
das über diesem Deutsch, dem Buchdeutsch aufgehn soll
als eine Sonne, Stern, der aus alten Schatten über Bücher steigt,
Brot, das über Buch und Schatten gebrochen wird, sagt:
teile den Tisch, zerreiß ihn von oben bis unten, brich ihn wie Brot

Dann brich den Tisch wie Fraktur –
Elektronen sind Gestell der Chemie,
Gott ist Symmetrie und Vernunft eine Hur
so ist die Rede zu Tisch. Anders gesagt:
das Beste an Luther ist das Bachwerkeverzeichnis.

Offenbar eine Frakturausgabe der Tischgespräche von Martin Luther, die kritisches Nachdenken anregt.

Zum 10. Teil

Giambattista Marino (1569-1625)

Heute vor 400 Jahren (aber vielleicht auch gestern oder gar morgen) starb der berühmte Giambattista Marino (oder Marini) in Neapel. Er war ein Stern am Literaturhimmel, der die europäischen Literaturen beeinflusste wie nur wenige. Aber er war auch schon zu Lebzeiten umstritten und nach seinem Tod wurde sein Name zum Inbegriff für Schwulst. „Marinismus“ nannte man die von ihm beeinflusste Strömung insbesondere der sogenannten Zweiten schlesischen Schule (Hoffmannswaldau, Lohenstein). Die junge Germanistik im 19. Jahrhundert sprach gar von der „schändlichsten Epoche“ der deutschen Literatur. Unsere kleine Ehrenstele bringt eine Frühlingsstrophe in der deutschen Fassung von Barthold Hinrich Brockes samt einem Zitat von Brockes über Marino und ein polemisches Sonett aus der Dichterfehde mit Gaspare Mùrtola – die tatsächlich 2013 zum ersten Mal in Auswahl ins Deutsche übersetzt wurde!

Giambattista Marino, auch Giovan Battista Marino, auch Marini 

(* 14. Oktober 1569 in Neapel; † 25. März 1625 ebenda) 

Giambattista Marino
La Murtoleïde
Fischiata No. 34



Mùrtola, a dirla da fratel carnale
Hai ben il torto a far lo schizzinoso,
Quando con qualche verso grazioso
Altri procura di farte immortale.

Anzi più che se fussi cardinale
Devresti andarne vanaglorioso,
Perch´egli è meglio esser coglion famoso,
Che strappazzar mestiere dozzinale.

Abbine dunque ambizione e zelo,
Che queste baie che facciamo nui
Saranno lette come l´Altobelo.

E poi diran: gran senno ebbe costui
Che non valendo per se stesso un pelo,
S´immortalò ne le fischiate altrui.
Auspfiff Nr. 34


Mein Mùrtola, mal unter Brüdern:
Ist das gerecht, hier das Sensibelchen zu spielen,
Wo alle meine Mühen darauf zielen,
Dass du unsterblich wirst in meinen Liedern?

Das ist doch mehr, bei richtigem Betracht,
Als hättest du´s zum Kardinal gebracht;
Denn ein berühmtes Ei sein bringt mehr Ehre
Als irgend so´ne Dutzendkarriere.

Du solltest hoffen, dass mir meine Reimerei´n gelingen,
Denn die Späße, die sie bringen,
Wird man wie ´n Roman (1) verschlingen.

Das war ein Schlitzohr, wird man sagen:
Von selbst tät keiner nach dem fragen,
Drum ließ er in die Ewigkeit sich von ´nem andern tragen. (2)

(1) Der Altobello oder Altobelo des Originals, 1476 erschienen, war ein beliebter Ritterroman.
(2) Marino sollte in diesem Punkt, wie es scheint, nicht ganz unrecht behalten. In der italienischen Wikipedia liest man: „Gaspare Mùrtola war ein italienischer Dichter und Schriftsteller. Sein Nachruhm bleibt überwiegend mit seiner Fehde mit Giambattista Marino verbunden.“ [Übers. von J.B.] In seinem Brief an den Herzog vom 15. April 1609 verleiht Marino dem Motiv eine melodramatische Wendung: „Wenn ich mich für eine Person von Bedeutung hielte, würde ich glauben, dass Mùrtola, in der Einsicht, dass er im Gedächtnis der Menschen nicht werde fortleben können, sich durch meine Ermordung Unsterblichkeit verschaffen wollte“, vgl. Giambattista Marino, Epistolario Seguito Da Lettere Di Altri Scrittori del Seicento, hg. von A. Borzelli und F. Nicolini, vol. I, Bari 1911, S. 80 [dt. von J.B.].

Aus: Episteln und Pistolen: eine barocke Dichterfehde / Giambattista Marino & Gaspare Mùrtola. Ausgew. und erstmals aus dem Ital. übertr. von Jürgen Buchmann. Leipzig: Reinecke & Voß, 2013

Con stupor di natura il manto vile
Spogliossi il verno , e la canizie antica
Sue pompe in lui la cortesia d’Aprile
Tutte versò con larga mano arnica
Ed arricchì d'un abito gentile
La terra ignuda , e la stagi« mendica
Le spine ornò di intempestivi onori
E maritò con le pruine i fiori.
Der Winter legte gleich / mit stutzen der Natur / 
Sein altes dürres Grau und kahlen Mantel ab /
Vom blumigten April sah man so gleich die Spur /
Der mit gefüllter Hand ihm seine Schätze gab.
Es deckt ein buntes Kleid die nackte Schooß der Erden /
Sammt des erfrornen Jahrs sonst Bettel-armen Zeit /
Den Dornstrauch zierete zu frühe Lieblichkeit /
Die Blumen sahe man mit Reiff vermählet werden.

Deutsch von Barthold Hinrich Brockes, aus: Italienische Gedichte mit Übertragungen deutscher Dichter. Zusammengestellt von Horst Rüdiger. Leipzig: Karl Rauch Verlag, 1938, S. 167

Barthold Hinrich Brockes über Marino

Ausgemacht [ist], daß niemahls ein Dichter gebohren worden, dem die Natur ihre wunderbaren Gaben reichlicher mitgetheilet. Niemand hat je eine so unglaubliche Fähigkeit zur Dicht-Kunst, niemand mehr lebhafftes, scharffsinniges und annehmliches zugleich besessen. Daher man ihn billig an Erfindung dem Ariosti, an Majestät dem Tasso, an Kürtze aber sich selbst nur gleich geschätzt. Er war in der Tat ein Glantz der Welschen Wolredenheit, er wußte durch seine geistreiche Einfälle die Gemüther mit wundersamen Reitzungen einzunehmen, weil er sowohl in schertz- als ernsthafften Gedichten vollkommen glücklich gewesen. Kurtz, er erwarb besonders durch seine Lyrische Schreib-Art nicht minder Ruhm als Anacreon, und an Menge selbst-verfertigter Schrifften haben es ihm wenige gleich oder zuvor gethan. 

Aus: Episteln und Pistolen, a.a.O.

Zahlen und Kürzel

Teil 8 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Es beschreibt, wie Worte, Zahlen und Kürzel eine abstrakte, fast formelhafte Realität schaffen – von der Periodentafel bis zum Bibelwort.

Text 8 Li wie Liebe 

sei ein Element 
und kurz wie das Symbol in einer Periodentafel der Chemie.

Wer aber hebt empor das Bibelwort, die Schwurhand Gotts, 
reicht die Hand dem Gott im Wort allein und steckt den schlichten Ring dem Finger an

Und das ist alles. Zahlen und Kürzel, Zahlen für Sätze und Strophen.
Kürzel, kein Foto vom Brautpaar zieret die Wohnwand, im Rahmenrand Kürzel und Zahl, 
nichts als die Losung wie Gewinnzahl, die deutet auf Verse, die Zahl dahinter 
ein unbewegter Beweger 
Nackt wie ein Wort ist der Mensch vor Gott, so stehts am Rand als Randbemerkung

Zum 9. Teil

Peter Bichsel (1935-2025)

Am 15. März starb der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel kurz vor seinem 90. Geburtstag. Man kennt seine Geschichten. Hier sind 3 Gedichte.

Peter Bichsel

(* 24. März 1935 in Luzern; † 15. März 2025 in Zuchwil)

wir wären wie die kinder

wir wären die kinder
und du wärst die mutter
sagen die kinder
zur mutter

und spielen wirklichkeit

sie bitten mich
schreibmaschine zu spielen
damit sie mich hören
vor dem einschlafen
wir verschieben die möbel

wir verschieben die möbel in unserer wohnung
oft aber zu selten
wir lieben die möbel
wir suchen eine wohnung
die kinder lassen ihre puppen liegen
das stört unsre möbel
wir stören die kinder
sie machen rote zeichen auf die möbel
das dürfen sie nicht
vieles ist verboten

vieles ist verboten
ein kleines geräusch in der straße möchte leben
auf den fenstersimsen stehen geranien
die autos möchten schön sein
liebst du mich noch

Aus: Aussichten. Junge Lyriker des deutschen Sprachraums, vorgestellt von Peter Hamm. Biederstein Verlag München 1966, S. 135

Salz sein der Erde

Teil 7 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Salz, Schwefel und Schweigen. Das genügt zur vorläufigen Information.

Text 7 adonäus mit gäp 
pssst, lispeln die wiesen vokalentfernt liegt sommerverzweiflung und die schafsgarbe
in asternartigen wispen flüstert
i ging transmutiert das werfen der gräser –
aber!

wer preiset und jauchzet
Kochsalz Alaun in glühenden Kohlen
Rauchende Säuren im damals nicht völlig
Geklärten Verbrennen von Schwefel mit Luft
Sulfoxid

Wie Kochsalz zu Kochsalz der Erden geworfen
Salz sein der Erde – Gap
Al_aun
gap R
Alraun
(das genügt zur vorläufigen Information)

Anklänge an Johann Sebastian Bach (Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage, Weihnachtsoratorium) und Friedrich Hölderlin (Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen / Schatten der Erde, letzteres ein Adonäus – davon schwirren noch etliche rum).

Wird fortgesetzt. Bisher veröffentlichte Texte hier.

Zum 8. Teil

Ornithologenkongress

Da wir beim Nachtragen sind. Nachzutragen ist der gestrige 100. Geburtstag von Wolfgang Bächler. Zu einem Auswahlband früher Gedichte hatte der Verlag S. Fischer dies zitiert:

»Das Beste und Interessanteste, was es an deutscher Lyrik seit Brechts Tod neben Peter Huchel gibt.«

Ernst Bloch, Tübingen 1963

»Daß Bächler in die Geschichte der Nachkriegslyrik gehört, ist selbstverständlich, muß aber wohl wiederholt werden, und etwas ebenso Selbstverständliches außerdem: daß ein schmales (was nicht bedeutet: kleines) Werk nicht nur Gewicht behält, möglicherweise an Gewicht zunimmt.«

Heinrich Böll, Süddeutsche Zeitung

Und hat es genützt?

Hier ein Gedicht aus den 1950er Jahren.

Wolfgang Bächler 

(* 22. März 1925 in Augsburg; † 24. Mai 2007 in München)

ORNITHOLOGENKONGRESS

Dreihundertachtzig Ornithologen aus aller Welt
tagten in Upsala, – Zoologen, Seelsorger, Maler,
Kulturfilmproduzenten, Tierärzte, Dichter, Studenten.
Nur die Russen erklärten bedauernd,
durch Expeditionen im Inland verhindert zu sein*.
Sie schickten Brieftaubengrüße.

Mister Sibson aus Auckland – Neuseeland –
zeigte im Film den neu entdeckten Vogel
Takake Notornis,
den es nur fünfzigmal gibt auf der Welt, –
Großaufnahmen im Flug, Nahrungsraub, Liebesspiel,
Brüten, die Brut, – Kolumbuseier des Vogelkolumbus.
Doktor Krämer aus Bremen erklärte
das Rätsel des Zugvogelflugs
durch den Einfallwinkel des Lichts,
der die Richtung der Stare bestimmt,
der Tagzieher.
Der Fahrplan nächtlicher Flüge blieb ungelöst.

Nach roten und schwarzen Marken am Schnabel
der Alten picken die jungen Silbermöven.
Rot und schwarz
sind auch für Vögel magnetische Farben,
bemerkte Professor van Hoopen aus Utrecht.
Doktor Lack aus Oxford belichtete
das Gleichgewicht der Bevölkerungsdichte,
das er an einer Vogelart in Jahrzehnten
statistisch erforscht hat:

Bei Bevölkerungsüberschuß
nimmt die Sterblichkeit zu. Auch Wanderflüge
von Vogelsippen in neue Gebiete
sind in die Gleichung von Zeugung und Tod,
Geburt und Sterblichkeit einbezogen, –
Bioökonomie.

Am dritten Abend beim Abschiedsdinner
brachen Kolibrischwärme
in die Versammlung der Pinguine ein.
Fischreiher zogen weiße Schleifen.
Dreihundertvierundsiebzig seltsame Vögel
flogen im Morgengrauen wieder gen Süden.

Aus: Wolfgang Bächler, Ausbrechen. Gedichte aus 30 Jahren. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1976, S. 42f

*) Ob nach Budapest oder Charkiw ist nicht überliefert. Anmerkung 2025

Persil mein Land

Teil 6 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Tarot und Chemie. Mörike spukt.

Text 6 Tarot
wahl und verwandtschaft
leg Dir die karten und zieh
chemie und chemie
heisst feuer machen
kohlen schleppen
verwendung für wasserdost finden, wasser sand
Du bist Persil mein Land
Perborat-irgendwas-silikat – history biology science I took
welchen weg du auch wählst
kartensalz Holzschnitt-Ovid
Glaubersalz
Von Jugentt auff die Hand in die Kohlen gestecket / und dardurch
verborgen Heimblichkeiten der Natur erfahren …

Das Zitat am Schluss stammt von dem Apotheker / Chemiker Johann Rudolph Glauber (* 10. März 1604 in Karlstadt; † 16. März 1670 in Amsterdam), das halbe in der Mitte lässt Eduard Mörike kurz aufleuchten (Orplid mein Land). Und Goethe war auch nicht zu vermeiden.

Zum 7. Teil

Geruch des Frühlings

In dreifacher Hinsicht ein Nachtrag zu gestern: zum Welttag der Poesie, zum Frühlingsanfang und zum 90. Geburtstag von

Hubert Fichte

(* 21. März 1935 in Perleberg; † 8. März 1986 in Hamburg)

Der Geruch des Frühlings, des Aufbruchs zu all dem ...

Dieser Geruch nach Rauch
der Verbrennungsöfen und nach Pulver
der Pelotons, nach Phosphor
ist der Geruch des Herbstes,
der wieder früh einbricht.

Der Sommer roch wie immer
nach milchreifem Korn unter den Stiefeln,
nach Milch unter den Panzerraupen.
Der Geruch des Frühlings, des Aufbruchs zu all dem ...
Wie wird der Winter riechen?

Aus: Aussichten. Junge Lyriker des deutschen Sprachraums, vorgestellt von Peter Hamm, Biederstein Verlag München 1966, S. 137

Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer

Ein 19teiliger Gedichtzyklus von Martina Kieninger (Montevideo)

Hier der komplette Text des Zyklus. Zwischen 21. März und 4. April wurden die Texte hier einzeln gepostet – dabei mit kurzen Einleitungen und Worterklärungen. Zu finden entweder unter dem Autorschlagwort, https://lyrikzeitung.com/tag/martina-kieninger/ oder indem Sie auf den ersten Beitrag gehen und jeweils dem Link auf den nächsten wählen.

Text 1 Budapest Gambit endverlogen spielbereinigtes reimfeld

sieben acht
Springer: nö
schach hä?
7.a3 Ngxe5!
(ich kann kein schach)
8.axb4?? Nd3#
Hashtag rautenenglisch doppel-sch und ist nichts als der
#eisern vorname schorsch
wie schornstein die zigarre im maul
ein gargoyle aus rauch
ach iron schachschorsch – namensvorfahr
dir sei diese metaffer aus pöppel gewidmet
wie die erinnerung an eine kieningertrap grobgeschnitzte endkönigin
Text 2 Faust Opern Text Gounod
Nachdem der Rote Leu die Lilie geknallt, dem war aber nicht so, nichts wars als
Ab und aufsteigende Schlieren – Wolkenphänomene hat er falsch in den Hals gekriegt als
Tierung im Glas, die Tiere seien gifterprobt, so Goethe

– Weiberhass und Schlangenbiss – Leu
schreibt ers an Döbereinst vom
antik bös weib
dem manne hab es leu gegeben
sei ihm aber nicht geschwind genug gestorben
worauf sie ihm ein zweites beigebracht – vom rattenzeug
nun sei der Mann frisch worden Mercurius Miracel – was das wohl gewesen?

Von gift und galle nicht die rede – sublimat sublimat so tönt es döbereinst
Zum Fall zurück an Goethen

Quecksilberchlorid
(molmasse und summenformel teilt er nicht mit)

baum strauch wassergift und mäßig löslich ist Kalomel HgCl
(„Ha“ „Ge“ „Ce“ „El“)
2 HgCL -> Hg + HgCl2 und das soll helfen?

nur zu Forschungszwecken bleibt die Zeit
Vor der Tür, dort knallen
Holz Wachs Schwefel dephlogistisierter Salzsäure
Molekularballung im Tyndalleffekt den Brautschleier,
klappen Elementidentitäten ihr Maul von Leu zu Leu
Text 3 chemielehrer I

ich hab sand vom spielplatz geklaut
geklaut hab ich Sand – für die
Chymische Hochzeit mit Worten dessen, was Feuer Wasser Luft und Erde der heiligen Asche
nicht entreißen konnten und die treue Schar der Alchemisten in die Urne gesammelt.

Aus dem Tiegel hätt die schwarze Vorform Homunkelwurm springen sollen, Asche Zucker
Natron Brennspiritus – irreversibel

Chemie ist keine Widerrufsbelehrung neuer Elemente,
Dystopium Ypsilon, Zet, auch Schlangenhaut genannt, Aschenmasse, die sich wurmartig
krümmt im Feuer erhebt sich aus dem Sand als hohle Struktur wie lebendig

chemielehrersand für ein chemielehrerexperiment
vom kindheitsplatz hab ich sand – für ein experiment
– ich war seit zwanzig jahren nicht mehr dort, am ortsrand
ich hab sand – geklaut. Zum platz am rand
sand, spielgerät trans
mutiert aus schaumkraut pusteblumen,
würmern, die sich ringelten
in pfützen, eine unbekannte anzahl kryptospezies,
Im giftigen fosforschiller
morphologisch nicht unterscheidbar
Text 4 chemielehrer II 
Ich brauch sand fürs chemie experiment zum element belustigung
wo aber find ich sand, vogelsand spielsand
der OBI hat zu, der „fressnapf“, ein tierfachgeschäft bezüglichen namens,
ich kurve um gärten, plätze der kindheit und auch um den geschlossenen friedhof,
einst klaute mein vater kastanien – nachts,
ich hatte vergessen, dass wir in der schule basteln sollten,
tiere aus herbst und aus hölzern, auf den friedhof ging mein vater, kletterte
über die mauer – drüben die väter von klassenkameraden
auf der suche nach bastelkastanien
Text 5 schild von gestern – hängt noch

so fallen nur schneeflocken wie dein kinderarm, mein kind, auf das kissen
ich sehe dir zu wie du seelenlangsam in den babyschlaf sinkst
Wundre ich mich, dass ich nichts merkte?
Nur das schild an der tür zur nachbarswohnung erinnere ich, frage mich

gabs keine ergebnisse
test falsch positiv
– vom teststreif wird in den nächsten zeilen die rede nicht sein
kein: streif stern vergleich
kein sternbild aus der sprachgalaxie der Kosmoskästen Chemie
(ausm Begleitheft geklaut) oder
allgemein Chemiekenntnis raushängen lassen
nuklein (Schulexperiment mit Abstrich von Schleimhaut)

Nichts mitgekriegt im Tangojuli jubelnder Einzelstränge
(„angewandte Biochemie“ julitango rechne zurück,
die heels warn wohl high wie Cotton im Feld, höher als ZuckerrohrCane)
High heels, abers kind hat nichts niedergetanzt
nicht eingeschlagen in mich als erkenntnismeteorit im sternenbild baby

Dann schweig also Metaffer, hau ab,
nimm deine billigen Bedeutungen mit,
verschon mich mit Juli und CottonCane polyploid,
verkneif dir die Vokabeln zusammengebastelt aus Stern und aus Kind,

Nur die Bewegung deines Kinderarms mein Kind,
wie eine falschpositive erinnerung, ein schild
an der verlassenen wohnungstür nebenan (weiss nicht, ob es sie gab, ob Tür, Schild, gar Juli)
ich weiss nur, so fallen schneeflocken wie dein kinderarm, mein kind, auf das kissen
ich sehe dir zu wie du seelenlangsam in den babyschlaf sinkst, es ist Juli again
und das schild hängt noch von weihnachten – let it snow
Text 6 Tarot
wahl und verwandtschaft
leg Dir die karten und zieh
chemie und chemie
heisst feuer machen
kohlen schleppen
verwendung für wasserdost finden, wasser sand
Du bist Persil mein Land
Perborat-irgendwas-silikat – history biology science I took
welchen weg du auch wählst
kartensalz Holzschnitt-Ovid
Glaubersalz
Von Jugentt auff die Hand in die Kohlen gestecket / und dardurch
verborgen Heimblichkeiten der Natur erfahren …
Text 7 adonäus mit gäp 
pssst, lispeln die wiesen vokalentfernt liegt sommerverzweiflung und die schafsgarbe
in asternartigen wispen flüstert
i ging transmutiert das werfen der gräser –
aber!

wer preiset und jauchzet
Kochsalz Alaun in glühenden Kohlen
Rauchende Säuren im damals nicht völlig
Geklärten Verbrennen von Schwefel mit Luft
Sulfoxid

Wie Kochsalz zu Kochsalz der Erden geworfen
Salz sein der Erde – Gap
Al_aun
gap R
Alraun
(das genügt zur vorläufigen Information)
Text 8 Li wie Liebe 

sei ein Element
und kurz wie das Symbol in einer Periodentafel der Chemie.

Wer aber hebt empor das Bibelwort, die Schwurhand Gotts,
reicht die Hand dem Gott im Wort allein und steckt den schlichten Ring dem Finger an

Und das ist alles. Zahlen und Kürzel, Zahlen für Sätze und Strophen.
Kürzel, kein Foto vom Brautpaar zieret die Wohnwand, im Rahmenrand Kürzel und Zahl,
nichts als die Losung wie Gewinnzahl, die deutet auf Verse, die Zahl dahinter
ein unbewegter Beweger
Nackt wie ein Wort ist der Mensch vor Gott, so stehts am Rand als Randbemerkung
Text 9 
Wenn Tischgespräch führt zur Alchemie
ungeschaffen ein Golem aus Holz wie Fraktur auf
Tischdeutsch im Raum für Buch und Brot,
das über diesem Deutsch, dem Buchdeutsch aufgehn soll
als eine Sonne, Stern, der aus alten Schatten über Bücher steigt,
Brot, das über Buch und Schatten gebrochen wird, sagt:
teile den Tisch, zerreiß ihn von oben bis unten, brich ihn wie Brot

Dann brich den Tisch wie Fraktur –
Elektronen sind Gestell der Chemie,
Gott ist Symmetrie und Vernunft eine Hur
so ist die Rede zu Tisch. Anders gesagt:
das Beste an Luther ist das Bachwerkeverzeichnis.
Text 10 
Gottgewollt ist Messungenauigkeit.
Also Schluss mit der Tischrede von Brot, Buch, Tisch.
Aber da steht er, er steht noch
transmutiert von Holz in Holz

Beweis:
Brot ist Signaturmittel gegen Hunger
Und Wein gegen Satzbau,
Yeah: Schluss jetzt mit Tischdeutsch
Er steht aber da. Guckt, als sei er ein Tisch, der Tischgespräche führt.
Thesen zum Brot,
Erstens ist der Tisch eine Behauptung und hat Posaunenfüsse aus Hymnen.
Die Hymnen sind ununterscheidbar
Posaunen nichts als Hilfsvariablen für Naturwissenschaftler.
Zweitens: Die Posaune – auf den Tisch geworfen ergibt sich aus dem Wort,
das Wort gespiegelt am Buch zum Brot transmutiert.
Das Brotelement, Elixier, vermehrt Brote

Nichts weiter will er sein als Tisch, sagt er
ist nur voll von Sätzen – unbewiesen wie:
Quanten sind Gegenmittel gegen Quanten
(und der Pfarrer ein bekennender Quantenmechaniker)

Kugeln sind Gegenmittel gegen kartesische Koordinaten –
Beweis: noch nie hat ein Mensch Atom in Würfelform gesehn
Gegenbeweis: noch nie hat ein Mensch Atome gesehn.
Text 11 Experimentierkasten

Phlogistonvogel, entweiche, der Asche entsteige wie eine Frage entsteigt, frag nicht,
was verbrennt beim Verbrennen der Wörter zu Zahlen,
zu Formeln sich bindet mit Luft Sauerstoff.

Begriff sphlogiston, Vogelbegriff, den das spielende Kind hält, es hält den Vogel wie einen
Chemiebaukasten und den Chemiebaukasten für den Zugriff auf Welt die es niederspielt pulverbunt
in scharfen Wassern

nichts ist ihm Welt als Berge, die Eisenerz geben
die Wiesen Gras für die Milch, der Wald schafft Holz

nichts ist die Welt als Prakti sches für Prakti ker die so geregelt ist, dass eins sich übers andre stülpt
wie ein Glassturz über die Kerze im Kindergartenexperiment dem spielenden Kind, das die Kerze auf
dem Teller entzündet,
das Glas stülpt und Wasser in den Teller gießt, sieht, wie die Flamme erlischt,
beobachtet wie das Wasser steigt im Glassturz, Begriff sphlogiston!

Entweiche aus der Hand des zugetexteten Spielkinds und den zugehörigen
Chemiebauskastenerklärungen aus Kohlendioxid Oxygen
Luft druck, der das Wasser achselzuckend ins Glas hochtreibt, entweiche sprachlos – pulverbunt

Text 11a) Rezension KOSMOS- Chemiekasten: Als ich endlich chemiefrei leben wollt
ich hatt den ganzen Haushalt
pulverisiert, präpapiert
frei von chemie, da
hat der Chemiekasten heimlich Chemikalien ins Kinderzimmer gesteckt
Der Verstand blieb mir stehn wie Goldgötz im Bleischmelz.
Wie eine gekochte Schlange hätt aus dem
Baukasten springen
sollen die Erkenntnis,
dass man heutzutage
gut komplett auf
Chemie verzichten kann
statt dessen erhielt ich
Chemiegift.
Das hätt ich nicht gedacht von
diesem Unternehmen!)
Text 12 Laborunfall

Pack mal mit an
frag nicht, was er gemacht hat,
warum er allein war –
wie das hier aussieht,
drehn wir ihn um, frag nicht
wo ist mund loch lippe

er hat was gesagt,
schwerer verständlich als giftdatenblatt
pack bitte mit an

liegt da gegen die vorschrift –
allein hätt er nicht dürfen – wozu gibt’s laborordnung
die arbeitsgruppe organometallik
ist schließlich kein trennungsgang probierkabinett, drecksapotheke
zur gemütlichen bestimmung von karbonat schwefelhaltiger
verbindung aus bad und aus brunn,
kein spitzweggemälde mit glänzenden kolben im gotik-gewölbe
kein faustoper bühnenbild, das sich gounod bei der requisite bestellt

Überm Zeitungsbericht das Symbolbild Chemieunfall,
wenn die lokalzeitung kommt, dann knipsen sie immer
den rotationsverdampfer, von fern
sieht der aus wie planetenmaschine –
der rotzverdampfer (laborjargon erstsemester) macht was her

bild aus der datenbank
rotkreuzwagen, die sanis mit liege

drehn wir ihn um
es rinnt wo der mund war
quillt als hätt ihn der Teufel geholt

lagern wir ihn
schockzustand
den arm unter die hüfte
pack mal mit an,
schwer liegt er da wie ein gastank im chemiemoor
aus dem Lippenloch dringt ein Gemisch
Und vor ihm her die gase schwimmen
(der heidemann steigt)

wir müssen raus – ihn raus – (heidemann!)

es ist immer nachmittags fünf
wenn sich einer heiß rasiert in der organik (erstsemesterjargon),
Aceton und Trockeneis mischt das Erstsemester neben dem Bunsenbrenner
jetzt ist er im Kathrinen, Transplant-Station

und hat mehr glück gehabt als der Chemielehrer im Nachbarbett
Beim Aufschrauben der Glasschliffstopfenflasche zerknallte diese.
Detonation. Verkrustete Reste
Kalium und Natrium und deren Amide ergab die Untersuchung

Nach der Rettung kommt Zeitung
Wie stellt man unfall dar
In der Schule hat sich ein Schüler heiss rasiert (erstsemesterjargon),
ein albernes experiment aus dem Chemieunterricht
sand asche natron brennspiritus – und davon zu viel.
Text 14 sprich adhäsion mit mir   

Aus Eisen sind Stangen und Klammern in Richtung der Nacht
das Carbon grau, Oxygen rot,
Hölderlinprotein Glycin Gly ⎯∪∪⎯∪∪⎜⎯∪⎯ stark ernst
Flammendes blutendes Morgenrot
weht in Fetzen rot wie
waagrecht aufgehängte Rotweinkotze Echtzeit faltet Molekülvorstellung riboli.
Ribonuklei sagst Du, wie Taschenmonster klingts, PokemonsterRNA,

SEQRES 1 A 272 GLY SER SER HIS HIS HIS HIS HIS HIS SER SER GLY ARG
SEQRES 2 A 272 GLU ASN LEU TYR PHE GLN GLY HIS MET PRO LYS ARG ARG
SEQRES 3 A 272 LYS SER VAL THR GLY GLU ILE VAL LEU ILE THR GLY ALA
SEQRES 4 A 272 GLY HIS VAL SER VAL PRO PHE LEU LEU ALA TYR CYS SER

ATOM 139 C GLY A 40 2.256 -14.778 9.734
ATOM 140 C GLY A 40 1.669 -13.753 8.783
ATOM 141 O GLY A 40 2.336 -13.285 7.855

So sprich die Sprache der Adhäsion, Schlamm, Teer Pech und Masse,
IUPAC-zäh wie lange Karbonkettennamen
Sprich Ovid mit mir, sprich Transmutation von Ameisen zu Ameisensäure
sammle die Tiere,
presse die Tiere
destilliere
die Säure davon

Du sagst: Fahl ist die Herde, die der Mensch wie eine Abstraktion aller Herden
in Büchsen treibt, zum Fleischextrakt, zum Märchenschlamm, Ovid, mein Land,
Lieb wie Salz ist mir die Bildschirmnacht, wellenlängenlang
das Radio zur Hinrichtzeit Klassik spricht und überm Funkdach stehn die Stangen (Eisen) Richtung
Hafen (tierproduktumschlagplatz), wie
Dein Gestell der Tier- und Rippsimulation
Carbon ist grau Oxygen rot
zu Pech und Schwefel wird das Tier,
zerfällt zu Einheit pro Mol.
Text 15 Aldehyd alkahest

lege die Tiere. das stille Getier, sie sollen nicht wieder, sie sollen nicht kehren noch wissen
von Mitteln (in Klammer: Formaldehyd), so lege. sie sollen nicht kehren – nicht wieder. Im Quaderglas liegt wie in Armen das Haiweib,
Formaldehyd trägt sie gleich einem Kinde,
so ruht sie im Bade (Embryonenbad) schwebend. Sich jährend wie Fisch im Formaldehyd

Molekülgleich lösen sich Flügel und Schwanz
zur vielfachen Aldehydfischverbindung, Tieraldehyd
es gleiten die Menschen durch Zeit wie der Fisch durch die Lösung, im Lippenloch steckt noch
dem Haiweib das Lachen wie ne schnelle Zigarette
Die in Mitteln sich lösen, zum Wort zerfallen,
sollen nicht kehren ins Leben aus Schlammaldehyd,
sie sollen in Schlieren in Blasen und Blister ungenau flocken im Quader -
nur Augen im Spiel, geworfen wie Würfel im sich trübenden Glas. Wort Zahl Kopf, das fällt wie ein Tier aus dem Tierkreis, Apothekenhai-, Tierkreistier
zur Erbauung der Menschheit im Quader gelöst zum Tierschlamm, dort punzt die Zeit wie ein Stiefeltritt das Tieraldehyd in den Schlamm

Wo fängt das Tier an, so fragt sich, wo Schlamm und die Flügel des Hais,
Kraft der Poesie – so fragt sich und sagt es das Kind. Ein tiefes Kind sagt es der Tierform des unterm Stiefeltritt,
hineingepunzt ins Quaderglas
– Kopf, Schwanz, ganz – es soll aus den Teilen, den nieder, vom Stiefel in Schlamm getretnen, es soll werden und kehren aus Teilen das Tier –
so zieht das Kind das Lyrik-Ich des sich Lösenden, des Stiefelgetretenen aus dem Quaderglas verspricht zwei Flügel ihm,
der Fischschwanz hebt sich aus dem Schlamm und fliegt davon.

Wie Vögel übers Meer
so fliegt er ewig wie Licht, das von Spiegel zu Spiegel
geworfen nicht wieder wird kehren.
Text 16: transmutationen, franz tausend 

Wie vom Croupier aus dem Kessel geharkt,
nichts als Summen geharkt ins Hydrogen zwei Oxygen,
wo aber ist es
das Wasser,
Wiege der Wellen,
Spiegelbild des Spiegels,
seit wann löst sich Wasser
in Formeln, Verhältnis von Zahlen
wie Steuererklärung.
Die Schwingung, wenn Glas, dessen Rand der nasse Finger überstreicht, singt im
Glaselement, die Zahl singt die Schwingzahl
organischer Stoffe. So wachsen wie Pflanzen Metalle, transponiert wie Akkorde so wandelt es sich von Kochsalz zu Morphium, Lehm in den Zinn.
Text 17 Gretchentraum (Revision einer Psychoanalyse von 1920)

am springpudel bachvorbei dort am ort nur fort
analyse: wohl ne erektion?
revision: gedrehtes lied im spinngesing auf tritt im weiten kleid das
frolleinweib und singt von einem traum: sie werde nicht den fischinhalt
den hering ganz aufs brot, sie wird, die sängerin, die doch das gretchen
singt, sich nicht den ganzen fisch das räucherfischgesamt, geräuchert
rauch wie schall und ruch sie wird doch nicht den ruchfisch, den
verruchten fisch, den herrn, den hering sich aufs brot tun, begriffsfisch,
ein geschmiertes brot mit hering von der insel rügen. war so
fett und weiss und schön. die gräten gingen leicht heraus,
nicht einzeln sondern
ganz wie eine rippe. räucherfisch aufs brot, das glaubt sie nicht,
daß eine sängerin: gretchensängerin: gesangsmargret, daß die sich einen
fisch, aus dem die gräten rausgehn, zur grätengänze die ganzgräte, daß die
sängerin, die auftritt dort, im lampenlicht, im weiten kleid, sie kanns nicht
glauben, sagt die schwester.
analyse: butterbrotsymbol für koitus,
revision: schmierbrot mit geschmiertem
räucherfisch, räucherherr, gerüchtefisch, ein rügenkind im
traum: den inhalt eines heringskinds wird sie mit butterbrot
herunterschlucken.
so die schwester, nein, sie glaube nicht, dass eine sängerin, die doch das
gretchen singt,
so viel aufs butterbrote nimmt.
revision: geschmiertes wortbrot,
des brotbrauch fischbelag brotgebrauch wie ein
geschlucktes wort und fort der
traum: im heidenebel habe sich die form, schiffsrumpfform geschnitten und
bewegt. ein kind stand dort – pause – auf der heide – pause – fort
analyse: phallusgleichung fisch und kindsymbol
revision: lieder von der heide, heidelied. ihr ist das heidekind genommen
– gnadenzustand ungetauft. des heideknaben rumpf herausgeschnitten: lag
waagrecht und ward wieder aufgestellt.
analyse: erektion.
traum: bachvorbei dort am heideort nur fort
revision: abort

Text 18 Gretchentraum Wolfgang Pauli – KeplerFludd

Sie wirds wohl doch nicht tun, die tänzerin, sie wird nicht das klavier ausgießen, das doppelding im spektrum spinklavier am raumrand der als eine nebelspinnerin, die an der kreuzung ihre mondbewegung spinnt und keine sage dazu kennt, nicht wird sie es, so träumt er fort, träumt von einer zeitenspielerin, die aus kannen kenntnis gießt – als doppelpunkt nach kepler alchemie die sonne dort im zahlstrahl über flächen streift überstreifter sonnenbahn im zeigersinn, vom radio zerstrahlt wie eine kanne, die zu boden gießt, aus der erkenntnis fließt, und fort vom kreuzungspunkt im pauliraum von hieroglyphentrinität und zeitentrückt. Er wird doch nicht die zeitentänzerin am sternenort die getreue spinnerin die sich wie haspel spinnt, er wird sie nicht verlassen auf dem kreuzungspunkt im doppelspin der gegenuhr. so gießt er als die hieroglyphenvase fällt, erkenntnis aus, nein, das glaubt er nicht im traum

Text 19: Winter in Wien, 1958

und oben
bewohnt Entsetzen das Haus, starrt vom Dach
hochaufgerichtet. Spielt durch der Formen Fünf. formgenormter Fingerzahl,
wie'n Menschenspiel, der Finger heil'ge fünf'ne Fingerzahl, Menschennorm,
durch der urzeitformen Tiere Formen spielt's wie. Starrt vom Dach der Hütte wie die.
Wie die Toten, die Ahnen, glotzen und starren, man bricht ihnen die Beine, die
Knochen, man schneidet ihnen. Es nützt
nichts. Schneide den Toten,
den Ahnen, es nützt nichts, breche die Knochen, die Beine, man schneide.
schneidet ihnen wie. Zur Erbauung im Zoo, den Kopf, trennt man, teilt
durch die Kopfzahl, Anzahl der Finger, Dopplung zweifacher Achssymmetrie
schimmerts wie Mensch, teilt man, spalte den Kopf, durch die Zahl, es
schimmert, Zooerbauung der Menschheit, teilt man der Stufe, der Fischstufe –
Fischform – Zwischen
entwicklung, des vielzellen Polypen Kopf, sich
ausdifferenzierenden Kopf-
abschnitt in zwei zum Magen hinunter, man spalte
den Fisch, was heißt da schon Fisch, gangungenau ist die
Umgangssprache umgangssprachlichen Zoowissens, ungenau spaltet der
Sprachbrauch die Welt
in Tintenfisch, Hydra, Polypen, Süsswasserpolyp vom Kopf bis zum Magen,
so streiten die Köpfe, heißts, die Zweikopfheit zur Erbauung von
Zoobesuch, Pflegbelegschaft und Zooteam, erbaun sich am Zweikampf der Köpfe um
Nahrung des gemeinsam genutzten Magens, die Köpfe, sie streiten.

schweig Metaffer, hau ab

Teil 5 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Das was bleibt und das was unbemerkt vergeht… Die Erinnerungen werden vom Chemieexperiment überformt, dann metasprachlich hinterfragt. Halts Maul, Metaffer – aber wie?

Text 5 schild von gestern – hängt noch

so fallen nur schneeflocken wie dein kinderarm, mein kind, auf das kissen
ich sehe dir zu wie du seelenlangsam in den babyschlaf sinkst
Wundre ich mich, dass ich nichts merkte?
Nur das schild an der tür zur nachbarswohnung erinnere ich, frage mich

gabs keine ergebnisse
test falsch positiv
– vom teststreif wird in den nächsten zeilen die rede nicht sein
kein: streif stern vergleich
kein sternbild aus der sprachgalaxie der Kosmoskästen Chemie
(ausm Begleitheft geklaut) oder
allgemein Chemiekenntnis raushängen lassen
nuklein (Schulexperiment mit Abstrich von Schleimhaut)

Nichts mitgekriegt im Tangojuli jubelnder Einzelstränge
(„angewandte Biochemie“ julitango rechne zurück,
die heels warn wohl high wie Cotton im Feld, höher als ZuckerrohrCane)
High heels, abers kind hat nichts niedergetanzt
nicht eingeschlagen in mich als erkenntnismeteorit im sternenbild baby

Dann schweig also Metaffer, hau ab,
nimm deine billigen Bedeutungen mit,
verschon mich mit Juli und CottonCane polyploid,
verkneif dir die Vokabeln zusammengebastelt aus Stern und aus Kind,

Nur die Bewegung deines Kinderarms mein Kind,
wie eine falschpositive erinnerung, ein schild
an der verlassenen wohnungstür nebenan (weiss nicht, ob es sie gab, ob Tür, Schild, gar Juli)
ich weiss nur, so fallen schneeflocken wie dein kinderarm, mein kind, auf das kissen
ich sehe dir zu wie du seelenlangsam in den babyschlaf sinkst, es ist Juli again
und das schild hängt noch von weihnachten – let it snow

Polyploid bezeichnet in der Genetik einen Zustand, bei dem eine Zelle oder ein Organismus mehr als zwei komplette Chromosomensätze besitzt.

* Diploid (2n): Die meisten Tiere und Menschen haben zwei Chromosomensätze – einen von der Mutter, einen vom Vater.

* Polyploid (>2n): Pflanzen, einige Amphibien, Fische und seltene Säugetiere können mehr als zwei Chromosomensätze haben, z. B.:

** Triploid (3n): Drei Chromosomensätze
** Tetraploid (4n): Vier Chromosomensätze

Polyploidie tritt häufig bei Pflanzen auf (z. B. Weizen, Baumwolle, Bananen) und kann Vorteile wie größere Zellen, mehr Widerstandsfähigkeit oder neue Eigenschaften bringen. In der Züchtung wird sie genutzt, um robustere Sorten zu erzeugen.

Metrische Gruppen, Versfüße? rattern sich ins Ohr: heels warn wohl high / Cotton im Feld / ZuckerrohrCane / Juli again. – Wohin soll das alles führen?

Zum 6. Teil

An den Vogel Frühling

Uwe Greßmann 

(* 1. Mai 1933 in Berlin; † 30. Oktober 1969 in Berlin)

An den Vogel Frühling

Daunen dringen aus dir.
Davon kommen die Blumen und Gräser.

Federn grünen an dir.
Davon kommt der Wald.

Grüne Lampen leuchten in deinem Gefieder.
Davon bist du so jung.

Mit Perlen hat dich dein Bruder behaucht, der Morgen.
Davon bist du so reich.

Uralter, du kommst aus dem Reich der mächtigen Sonne.
Darum kommen Menschen und Tiere, und: Erde,
Dich zu empfangen.

Da du sie eine Weile besuchst,
Sind sie erlöst und dürfen das weiße Gefängnis verlassen,
In das sie der Winter gesperrt hat.
Und davon kommen die Sänger,
Die dich besingen.

Frühling, du lieblicher.
Du richtest den Kopf hoch.
Davon ist der Himmel so blau.

Und es wärmt uns alle dein gelbes Auge.
Und du siehst uns an.
Und darum leben wir.

Aus: Uwe Greßmann, Der Vogel Frühling. Gedichte. Mit Zeichnungen von Horst Hussel [und einem Geleitwort von Adolf Endler]. Halle: Mitteldeutscher Verlag, 1966 (2. Aufl. 1967), S. 63f.

Woher haben nur die Visionen des Lyrikers ihre Kraft? Sie werden wahrscheinlich gespeist von der Spannung zwischen einem „naiven“ Weltbild und der Beunruhigung des Dichters durch die Mitteilungen der modernen Naturwissenschaften. Das macht, glaube ich, die bedrängende Aktualität dieser Gedichte aus. Wir können sie „verstehen“, weil wir Menschen ebenso Anteil haben (noch) an den Vorstellungen der Höhlenbewohner wie an den Erkenntnissen, die uns aus den teuersten Laboratorien zufließen. Eine Erklärung – also doch keine Kapitulation! – des Kritikers, wird sie Greßmann annehmen?

Kürzlich, auf einer Bank am Hausvogteiplatz legte er mir dringlich nahe, daß es sich bei seinen Gedichten um Idyllen handle. Greßmann teilt seine Gedichte in zwei Hauptgruppen ein. Die ältere Gruppe ist den natürlichen Idyllen, der märkischen Landschaft, die jüngere den künstlichen Idyllen, der Großstadt Berlin gewidmet.

(Aus der Einleitung von Adolf Endler, a.a.O. S. 6)

Sand & Erinnerungen

Teil 4 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Wo Erinnerung und Experiment sich kreuzen, wird das Spiel mit den Elementen zur Suche nach verlorenen Orten und gestohlenen Kindheiten, naja

Text 4 chemielehrer II 
Ich brauch sand fürs chemie experiment zum element belustigung
wo aber find ich sand, vogelsand spielsand
der OBI hat zu, der „fressnapf“, ein tierfachgeschäft bezüglichen namens,
ich kurve um gärten, plätze der kindheit und auch um den geschlossenen friedhof,
einst klaute mein vater kastanien – nachts,
ich hatte vergessen, dass wir in der schule basteln sollten,
tiere aus herbst und aus hölzern, auf den friedhof ging mein vater, kletterte
über die mauer – drüben die väter von klassenkameraden
auf der suche nach bastelkastanien

Zum 5. Teil