Wie anders geht da Michael Donhauser, nun durch Rheinhessen. Er geht, wie er schreibt, durch eine Textlandschaft; und wir lesen mit ihm eine glücklich mit der Geliebten durchlebte Ortlosigkeit. Donhauser erwandert sich, was es gibt, enthält sich, anders als es beispielsweise Handke in früheren Texten getan hat, weiterreichender Folgerungen. Ihm ist die Landschaft, wie er schreibt, „in Zeilen angelegt“. Wer hier einen Himmel finden will, muss lesen können, in der wunderbar matt-melancholischen, in der verführerischen Sprache Michael Donhausers.
Norbert Hummelts Melodien über den Hunsrück stammen ebenfalls aus der Jugendzeit. Sie transponieren die Stimmen von stummen Wesen, von Forellen und gar von Apfelsaft in Verse und in Prosastücke. Eichendorff ist bisweilen sein Begleiter, dessen Verse, schreibt Hummelt über diese glückliche Allianz, haben ihn noch nie betrogen. Ähnlich dem Vorsatz bei Michael Donhauser ist alles aufgrund seiner Zeichenhaftigkeit gegenwärtig, kann alles Schrift sein. Die Natur von Hummelts Autorschaft kennt Rhythmen, Schwingungen und Laute. In dieser Resonanz treten wir in einen Kindheitsgarten, in dem die Allmacht großer Nähe herrscht, Nähe zu den Fliegen und den Steinen, zu Blicken, Schreien und Erinnerungen, um die es heute auch hier geht: „ich weiß nicht ob ich jung bin oder alt“, unter diesem Himmel, der das ganze kleine Buch zu tragen imstande ist, in diesen Gedichten herrscht die Macht der Gleichzeitigkeit, die alles sieht, durchaus mit einem Zittern, und nichts vergisst. / Guido Graf, FR 23.11.02
Gregor Laschen (Hrsg.): An die sieben Himmel. Lyriker und Erzähler besuchen sieben Landschaften. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002, 93 Seiten, 14,90
Für die NZZ (23.11.02) bespricht Hans Christian Kosler:
Robert Gernhardt: Im Glück und anderswo. Gedichte. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2002. 285 S., Fr. 33.60
Ein globaler auf jeden Fall. Alles wollte Ginsberg mit allem verknuepfen in seinen uferlos sich verstroemenden Gedichten, alle Kulturen, Zeiten… Ezra Pound mit der Beat-Lyrik, juedische Tradition mit der Weisheit des Buddhismus. So schrieb er um die Welt. Und so nehmen die Autoren dieses Bandes (Amerikaner, Europaeer, eine Japanerin) in ihren Texten Abschied von ihm wie von einem Mitreisenden, der zurueckblieb, am 5. April 1997 in Manhattan – um in neue Welten aufzubrechen. / Benedikt Erenz, Zeit-Newsletter 23.11.02
Texte zum Tod von Allen Ginsberg, hrsg. von Florian Vetsch
Der Sanitaeter 9/02; Verlag Peter Engstler, Ostheim 2002
ISBN 3-929375-31-1; 108 S., Abb., 9 Euro
Rolf Schneider stellt in seiner Berliner Anthologie vor: Richard Pietraß: Grenzfriedhof (Schneiders Kommentar über die „Sächsische Dichterschule“ ist – anders als das Gedicht – mit Vorsicht zu genießen!)./ Berliner Morgenpost 23.11.02 – In der NZZ gibts Mallarmés „Die Heilige“. – Und in der FAZ Karl Valentin: Die Lorelei.
Der Bremer Donat Verlag und der Autor und Kaufmann Volkert Koch planen ein ehrgeiziges literarisches Projekt. Volkert Koch möchte als Herausgeber dieses Buches darin Beiträge von Nachwuchsautoren und von bereits anerkannten Schriftstellern und Lyrikern aus dem Land Bremen und dem niedersächsischen Umland vereinen. Sein Ziel: Jedem literarisch Interessierten, aber auch der „kreativ schreibenden Szene“ soll mit diesem Buch die Vielfalt in qualitativer und quantitativer Hinsicht vor Augen geführt werden. Erwünscht sind bis zum 31. Dezember kurze Texte in deutscher, plattdeutscher oder englischer Sprache, die ein bis fünf Buchseiten lang sein sollten. Die Auswahl unter den anonymisierten Einsendungen trifft eine siebenköpfige ehrenamtlich tätige Jury von Autoren und Lektoren. Nähere Informationen erhalten interessierte Autoren bei V.J.P. Koch, Postfach 11 02 68, 28082 Bremen
/ 21.11.02
Der Lyriker Oskar Pastior erhält in diesem Jahr den Erich-Fried-Preis. Der in Rumänien geborene und in Berlin lebende Dichter wird den mit 14.500 Euro dotierten Preis am Sonntag (24. November) in Wien vom österreichischen Kunst-Staatssekretär Franz Morak entgegen nehmen, bestätigte das Literaturhaus Wien. Die Laudatio hält Kulturstaatsministerin Christina Weiss (parteilos), die noch vor ihrem Amtsantritt zur Jurorin bestellt worden war.
«Ich möchte denjenigen ehren, dessen Worte mir die deutsche Sprache neu entdeckt haben», begründet Weiss ihre Wahl für Pastior. Den Lyriker, der am 20. Oktober 75 Jahre alt geworden ist, bezeichnet sie als «einen der jüngsten Dichter deutscher Sprache», wenn man bedenke, «dass er quellengleich Sprache immer wieder neu erfindet». Er locke seine Leser in Sprachlandschaften, die mit zauberischen Kräften fantasievolle Welten im Kopf entstehen ließen. / Frankfurter Neue Presse 21.11.02
Nun darf er doch lesen. Wie die NYT berichtet, hat Harvard den irischen Dichter Tom Paulin erneut eingeladen.
„The purpose of a university is to see a variety of points of view,“ said Patrick Cavanagh, a psychology professor who signed a petition calling for Harvard to divest from companies doing business in Israel. „Here’s a man who’s a wonderful poet, and if his politics are more controversial, that’s really beside the point.“ / NYT *) 21.11.02
Eine poetische Kostbarkeit bietet der MDR in einem Hinweis auf Thomas Brasch mit dem Satz:
Ein Filetstück von Braschs Werk blieb die Lyrik.
Kann man es schöner sagen? – Trotzdem hinklicken: da gibts einen Audiobeitrag, auch mit Braschs Stimme. / 21.11.02
Im Freitag (48/02) fragt Birgit Dahlke nach dem Zusammenhang von Kanonbildung (von Reich-Ranicki bis „Das Gedicht“) und männlichen Sichtweisen:
Nehmen wir den öffentlichen Umgang mit Urteilen von Sigrid Löffler oder Iris Radisch. Halten wir die Wertschätzung, mit der fast jeder neue Text von Durs Grünbein (auch ein gänzlich durchschnittlicher wie das Tagebuch Das erste Jahr) rechnen kann, dagegen. Könnte eine Undine Grünbein in gleichem Maße darauf setzen?
/ 21.11.02
Ruth Lilly *), last surviving great-grandchild of the founder of Eli Lilly and Co., will ensure**) the magazine’s future. (From The Chicago Tribune .)
More . (From the Chicago Sun-Times .)
And . (From AP .)
**) und zwar, weil sie Gedichte an die Zeitschrift schickte, die für gut aber nicht gut genug für solch würdiges Magazin befunden wurden, was ihr in einem handschriftlichen Absagebrief mitgeteilt wurde.
Perhaps it was Parisi’s handwritten rejection note. Or similar rejection notes he’d send over the years to the same woman, whom he has to this day never met or even spoken with. But, along the way, Mrs. Van Riper grew to have affection for the publication, the kind that may change the state of poetry in America. / Chicago Tribune 17.11.02 Siehe auch NZZ 21.11.02
NYT*) November 21, 2002:
Poetry Hits the Jackpot
By MARTIN ARNOLD (NYT)
Poets reacted to the news that an 87-year-old heir to the Eli Lilly pharmaceutical fortune had given what could be as much as $100 million to Poetry magazine.
POETRY Magazine celebrates its 90th year of uninterrupted monthly publication with a special double issue featuring new poems by 77 of its most loved contributors. From Ashbery, Bly, and Collins to Kizer, Kumin, and Oliver to Wojahn, Wright, and Wrigley, the 90th Anniversary issue is an up-to-date anthology of what’s best in contemporary verse. To order this important issue and learn more about the magazine that T. S. Eliot called „an American Institution“ visit http://www.poetrymagazine.org
Und zwar von Rammstein:
Ordentliche Gedichte sind das schon, trauriges Zeug zum größten Teil. Es geht um Tod und Krankheit, Eiterfluss, Gedärm und „gieriges Geschlecht“. Vom barocken Weltende zu den expressionistischen Wasserleichen, von blutroten romantischen Abendstimmungen bis hin zu den sterbenden Tänzerinnen des Fin de Siècle hat Till Lindemann alles mitgenommen, was nach Verfall und Untergang riecht. Hier und da berührt der persönliche Ton, und manches ist wohl einfach nicht ernst gemeint: „ein kleines Boot im Flammenmeer / kein Land in Sicht nicht Feuerwehr“.
Reim dich oder ich peitsch dich: Natürlich denkt man an die Texte von Rammstein, schmutzig, pathetisch und mit dem Hammer gemacht. Bück dich, Metrum! /taz 20.11.02
Till Lindemann: „Messer“. Eichborn, Frankfurt a. M. 2002. 142 S., 29,90 €
Seamus Heaney still remembers that day in 1968 when the shy 16-year-old stood before him, a small, cherubic boy from a modest family, with a wash of wild, curly hair framing his face. The boy, Paul Muldoon, had just been introduced to Mr. Heaney, the poet, by his high school English teacher at a reading in Armagh in Northern Ireland. Mr. Muldoon asked if he could send Mr. Heaney his poems. He said yes, and in the mail they came.
There was one about a lamb: „You were first./The ewe licked clean ochre and lake/But you would not move./Weighted with stones yet/Dead your dead head floats./Better dead than sheep.“
„Perhaps you can tell me where I went wrong?“ the boy asked in a note.
Mr. Heaney wrote back. „I don’t think I can help you,“ he remembered saying recently. „You’ll find out everything you need to know.“
„The genius was there already,“ Mr. Heaney said. / NYT *) 19.11.02
Ossip Mandelstam dachte sich, ausserhalb des Chors der Jubelnden stehend, die Stadt als Ort einsamen Sterbens, als «unfruchtbar und düster». Aber eben: Er war nie in Venedig! Im Jahr 1920, in der Krimstadt Feodossija, während des russischen Bürgerkriegs zwischen zaristischen «Weissen» und bolschewistischen «Roten», inmitten von Hunger und Erschiessungen, versucht er in den Weinbergen als Tagelöhner zu überleben. Die Bestialisierung des Bürgerkriegs in Südrussland hatte er mit eigenen Augen gesehen. Eines Abends rezitiert er einem verblüfften Zeitgenossen die sieben prachtvollen Strophen seiner Vision vom Sterben des Menschen – in der Lagunenstadt (deutsch im Band «Tristia»):
Feine Luft der Haut. Die blauen Adern.
Weisser Schnee. Grüner Brokat.
Alle legt man auf Zypressen-Bahren,
Löst sie schläfrig-warm von Hüllen ab.
Und es brennen, brennen in den Körben Kerzen,
Als flög die Taube in die Arche heim,
In Theatern und auf leeren, öden Plätzen
Stirbt der Mensch, stirbt er allein.
Doch Venedig war für diesen Dichter auch eine Maske für das sterbende Petersburg, das von jeher als das «Venedig des Nordens» bezeichnet wurde. Mandelstams Imagination erkannte das erotische Fluidum der Stadt und ihres Karnevals. Am Schluss eines der schönen Schauspielerin Olga Arbenina gewidmeten Gedichts vom Dezember desselben Jahres 1920 heisst es: «An dir reizt alles, alles singt / Wie italienische Rouladen. / Dein kleiner Kirschenmund will flink / Jetzt herbe Trauben haben. // Versuch auch nicht, zu klug zu sein, / Du bist die Laune, bist nicht ewig, / Der Schatten von dem Hütchen – ein / Maskenbild wie in Venedig.» / Ralph Dutli schreibt in der NZZ vom 16.11.02 über Russen in Venedig von Puschkin bis Brodsky.
In seinem ersten Drama wie in seinem ersten grossen Poem hat Wladimir Majakowski die futuristischen Postulate, die damals in zahlreichen Programmschriften mit revolutionärem Furor vorgetragen wurden, produktiv umgesetzt. Traditionsbruch, Innovationswille und Prioritätsanspruch waren auch für ihn die Voraussetzungen einer Dichtkunst, bei der es mehr auf das Sagen der Sprache als auf die Aussage des Autors ankam, die das «Wort als solches» – das Wort als Klangereignis oder als bildhaftes Skriptum – dem Wort als Bedeutungsträger vorzog, die den kühnen Reim ebenso wie die kühne Metapher kultivierte und die im Übrigen mit Gott und dem Zaren, mit Spiessern und Akademikern gleichermassen erbarmungslos ins Gericht ging. «Ich flehte, / fluchte, / das Messer zückte, / verbiss mich in Schenkel, / schrie permanent . . . / Vibriert meine Stimme / – ein rohes, tristes / Geläster – fortwährend / durch alle Säle, / schnuppert womöglich Herr Jesus Christus / am Vergissmeinnicht meiner Seele.» Scharfe Satire und larmoyantes Pathos, Witz und Zärtlichkeit, Dissonanz und Melos verbinden sich bei Majakowski zu einem unverwechselbaren lyrischen Parlando, dem kein Register zwischen Gassenhauer, Gebet und arationaler Wortakrobatik fremd ist. / Felix Philipp Ingold lobt und kritisiert Nitzbergs neue Nachdichtung zweier früher Werke Majakowskis. (Der Titel „Wolkchen in Hosen“ dient offensichtlich eher dem Originalitätsanspruch des Übersetzers als dem Werk Majakowskis! Ingold: „Wo der Übersetzer zu viel für sich selbst will, kommt in der Regel der Autor zu kurz.“) NZZ 16.11.02
Wladimir Majakowski: Tragödie Wladimir Majakowski / Wölkchen in Hosen. Russisch/Deutsch. Übertragen von Alexander Nitzberg. Urs Engeler Editor, Weil am Rhein 2002. 140 S., Fr. 25.-.
(Vgl. auch FAZ 11.11.02)
Pindars „Siegeslieder“ in einer neuen Auswahl (Deutsch von Uvo Hölscher) bespricht die NZZ am 16.11.02:
„Siegeslieder. Griechisch-Deutsch
C. H. Beck Verlag, München 2002, ISBN 3406496385
Gebunden, 150 Seiten, 26,90 EUR
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