Gegen „Surenpingpong“,

das Herauslösen einzelner Zitate aus dem Koran durch Freund und Feind, schreibt Navid Kermani, SZ 4.2.03:

„Der Koran ist eine Schrift zwischen zwei Buchdeckeln, die nicht spricht; es sind die Menschen, die mit ihm sprechen“, sagt Imam Ali. Die Offenbarung bedarf der Interpretation, und erst mit Blick auf ihre realpolitische Wirkung lässt sich über den Islam sprechen. Dass sein Bild in der Gegenwart erschreckend aggressive Züge aufweist, darüber darf nicht geschwiegen werden und es sollte muslimische Denker mehr beunruhigen als westliche Klischees; wer jedoch in der Intoleranz einen Wesenskern speziell des Islams zu erkennen meint, leugnet die gewalttätigere Geschichte des Christentums.

(Ihm antwortete der Orientalist Rainer Brunner am 17.2.03 SZ)

Nationalbibliothek?

Kreativ-Schreiber, stille Poeten und – sollte es sie noch geben – Genies will die Nationalbibliothek des deutschsprachigen Gedichtes mit einem Wettbewerb entdecken. Zum sechsten Mal schreibt sie einen Gedichtwettbewerb aus. Es gibt Geld- und Sachpreise in Höhe von insgesamt 6000 Euro zu gewinnen. Zudem erhält jeder Teilnehmer ein Gutachten seines Werkes durch die Fachjury. Bei einem Lyrik-Festival werden die Siegergedichte öffentlich vorgetragen.

Wer darf mitmachen?

Jeder, der ein selbst verfasstes Gedicht in deutscher Sprache einsendet, nimmt am Gedichtwettbewerb 2003 der NATIONALBIBLIOTHEK DES DEUTSCHSPRACHIGEN GEDICHTES teil. Der Wettbewerb ist also wieder für jedermann offen, die Teilnahme ist kostenlos. Aufgefordert mitzumachen sind insbesondere auch solche Autoren, die bisher noch nie veröffentlicht haben. / 4.2.03

www.nationalbibliothek.de

Je rêve tellement fort de toi.

Das kritzelte der französische Journalist und Schriftsteller Robert Desnos (1900–1945) auf einen Zettel, nachdem er, von den Russen aus Theresienstadt befreit, in einem Krankenhaus im Sterben lag. Die Worte galten seiner Frau und Witwe Youki Desnos in Paris. Wie so viele junge Begabungen hatte auch er anfangs mit dem von Paul Claudel 1925 als Klub von Pädophilen denunzierten Kreis der Surrealisten um André Breton kokettiert; wie so viele zerstritt auch Desnos sich nur wenig später mit Bréton. Als die Deutschen Paris besetzten, brachen die verschiedenen Vorkriegsfraktionen Pariser Intellektueller, es kam zu wechselnden Bündnissen und abrupten Feindschaften. /

HANS JAKOB MEIER, SZ 4.2.03 über

PAUL SÉRANT: Dictionnaire des Ecrivains francais sous l’Occupation. Editions Grancher, Paris 2002. 348 Seiten, 22 Euro.

Mein Armloch

Im titel -magazin bespricht Klaus Hübner, 4.2.03

Rosa von Praunheim: Mein Armloch. Martin Schmitz Verlag. 2002. Broschur. 120 Seiten. € 14,50. ISBN 3-927795-36-4

Antilopenmond

NZZ lobt eine neue Anthologie afrikanischer Liebeslyrik

Und mit glücklicher Erschütterung spürt man dann plötzlich die Kraft und die Wut eines Syl Cheney-Coker (aus Sierra Leone) oder den Zynismus der grossartigen Ingrid Jonker aus Südafrika (* 1933), die sich 32-jährig das Leben nahm: «Ich steh zur Seite denen / die den Sex missbrauchen».

und verweist auf einen gewichtigen Mangel des Buchs:

Versammelt sind nur Gedichte, die in Englisch, Französisch oder Portugiesisch geschrieben wurden, in den Welt- und Kolonialsprachen. Bis auf Ausnahmen ausgespart blieben – weil nur schwer übertragbar – Verse aus afrikanischen Sprachen. Was aber wäre Afrikas Lyrik ohne ihre oralen Traditionen?

Uwe Stolzmann, NZZ 4.2.03

Peter Ripken und Véronique Tadjo (Hg.): Antilopenmond. Liebesgedichte aus Afrika. Mit Illustrationen von Juliane Steinbach. Aus dem Englischen von Thomas Brückner. Aus dem Französischen von Sigrid Gross. Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel. Peter-Hammer-Verlag, Wuppertal 2002. 188 S., Fr. 30.80.

Außerdem: Genoveva Dieterich über die 1989 auf Spanisch erschienenen Erinnerungen der jüngsten Schwester des spanischen Dichters Federico Garcia Lorca , der 1936 von den Franquisten ermordet wurde.

Nachruf auf Annemarie Schimmel

Ms. Schimmel taught generations of students in a breathtaking style that included lecturing with her eyes closed and reciting long passages of mystical poetry from memory. She spoke Arabic, Farsi, Turkish, Urdu and Punjabi. / NYT 2.2.03

Mehr Nachrufe auf Annemarie Schimmel siehe Ausgabe Januar 2003.

Gedichte sind Musik

Diether de la Motte: Gedichte sind Musik. Musikalische Analysen von Gedichten in 800 Jahren. Bärenreiter-Verlag, Kassel 2002. 202 S., Fr. 31.50.

Neue Zürcher Zeitung , 1. Februar 2003

So That´s What It´s Like

Naturgemäss gibt es Dichter, bei denen die Übersetzer besonders hart an ihre Grenzen stossen: Ein solcher Fall ist Tony Harrison, Poeta doctus aus dem Arbeitermilieu von Leeds, mit seiner erstaunlichen Verbindung vulgärer Kolloquialität mit der handwerklichen Meisterschaft im Gebrauch fester Formen wie des Sonetts. Alles in allem ein nützlicher, nötiger, vielfach gelungener Band; und den grossen Verlagen durchaus, wenn auch nicht unbedingt in gleicher Machart, zur Nachahmung empfohlen. / Werner von Koppenfels, NZZ 1.2.03

Wolfgang Görtschacher / Ludwig Laher (Hrsg.): So also ist das. So That’s What It’s Like. Eine zweisprachige Anthologie britischer Gegenwartslyrik. Haymon-Verlag, Innsbruck 2002. 250 S., Fr. 43.-.

Zum Tod von Annemarie Schimmel

Wer die kleine, zarte Gelehrte einmal in ihrer Bonner Wohnung erlebte, umstellt von jenen vielen Büchern, die ihren eigenen Kosmos in die Außenwelt transportierten, war über ihre glühende innere Energie erstaunt. Wer ihren detaillierten Ausführungen über das „schwarze Licht“ lauschte, welches die mittelalterlichen Sufis der persischen „Schule der Erleuchtung“ in ihren Meditationen zu sehen vermeinten, wußte, daß sie nicht ganz von dieser Welt war. Auch die Muslime, ja diese ganz besonders, werden sie betrauern. / WOLFGANG GÜNTER LERCH, FAZ 29.01.2003, Nr. 24 / Seite 33

Weitere Nachrufe: NZZ 29.1.03 / taz 29.1. / FR 29.1. / SZ 29.1. / Tagesspiegel 29.1.

Hughes´ Sinnfuchs

Das Eröffnungsgedicht, „Der Sinnfuchs“, legt eine klare Fährte mitten in das Zentrum von Dichtung, es beschreibt auf einer knappen Seite das, wozu andere vielleicht eine ausgearbeitete Poetologie benötigen, nämlich den mystischen Entstehungsprozess eines einzelnen Gedichts. „Ein bilde ich mir dieses Mitternachtsmomentes Wald: / Etwas andres außer mir lebt / Noch neben der Uhr Einsamkeit / und dieser leeren Seite, auf der meine Finger sich regen… / Kalt, zart wie der dunkle Schnee / Berührt eines Fuchses Nase Zweig, Blatt… / Bis er mit einem jäh scharf beißenden Fuchsgestank / Eintritt in die dunkle Höhle des Kopfs. / Sternlos das Fenster noch; die Uhr tickt, / Die Seite ist gespurt.“ Dank der geschickten Auswahl scheint sich Gedicht für Gedicht ein kurzer Abriss der Geschichte menschlicher Dichtung aufzubauen, wie sie sich Hughes darstellt und die er mit seinem eigenen Werk als Zeugnis belegt. / Cornelia Jentzsch, FR 29.1.03

Ted Hughes: Prometheus auf seinem Felsen. Gedichte. Englisch und Deutsch. Übertragen und mit einem Nachwort von Jutta Kaußen. Mit einem Bilderzyklus von Eva Clemens. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002, 96 Seiten, 13,80 € .

Ted Hughes: Etwas muss bleiben. Gedichte. Englisch und Deutsch. Ausgewählt und übertragen von Jutta und Wolfgang Kaußen. Mit einer Gedenkrede auf Ted Hughes von Seamus Heaney. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 201 Seiten, 14,80 € .

In der gleichen Zeitung bespricht Jan Wagner den Gedichtband der Hughes/Plath-Tochter Frieda Hughes (vgl. Archiv 21.01.03 Kein Wunder bei den Eltern).

Museum der halben Weltpoesie

Anläßlich der Neuausgabe seines „Museums der modernen Poesie“ sprach Hans Magnus Enzensberger mit der Märkischen Allgemeinen (29.1.03):

Im Nachwort sprechen Sie von „Illusionen und Irrtümern“, denen Sie bei der Erstauflage erlegen gewesen seien. Meinen Sie damit auch Ihren Begriff von der „Weltsprache der modernen Poesie“?

Enzensberger: Ja, sicherlich. Denn das gehörte natürlich auch zum Pathos des Neuanfangs. Wir standen in diesem nicht nur kulturellen und literarischen, sondern generellen Trümmerfeld der Nachkriegszeit. Da hat man dann vielleicht in diesem Pathos manchmal etwas zu hoch gegriffen, denn „Weltsprache“ würde ja implizieren, dass man tatsächlich sämtliche Kulturen dieser Welt vorstellt. Und das hätte meine Möglichkeiten gesprengt.

Farbfleck auf einem Mondrian-Bild

Nico Bleutge bespricht für die SZ, 29.1.03:

RICHARD DOVE: Farbfleck auf einem Mondrian-Bild. Gedichte. Edition Thaleia, St. Ingbert 2002. 184 S., 14 Euro

Fegefeuer der Moderne

Den Sommer und Herbst 1945 verbrachte Ezra Pound unter Umständen, die denen in Guantanamo Bay vielleicht nicht ganz unähnlich waren. Als Häftling oder „Trainee“ des U.S. Disciplinary Training Centers in der Nähe von Pisa war er drei Wochen lang bei glühender Hitze in einem eigens für ihn verstärkten Eisenkäfig eingesperrt. Es gab Wasser und 510 Gramm Brot am Tag, einen Kübel und eine Wolldecke, die man auf dem Betonboden ausbreiten konnte. Keiner durfte mit den Insassen der „Boxen“ sprechen; die ganze Nacht über blieb der Käfig angestrahlt. Die Zeit vertrieb sich Pound damit, dass er den Wespen und den Ameisen bei der Arbeit zuschaute. / CHRISTOPH BARTMANN, SZ 28.1.03

EZRA POUND: Pisaner Cantos LXXIV-LXXXIV. Herausgegeben und übertragen von Eva Hesse. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2002. 288 Seiten, 22 Euro.

Borges, Metaphern lesend

Die FAZ präsentiert uns heute schöne kluge Sätze von Borges, wie diese:

Ich fürchte, hier nicht verstanden zu werden, und auch auf die Gefahr hin, die Angelegenheit allzusehr zu simplifizieren, möchte ich ein Beispiel suchen. Als Illustration mag uns diese aufgegriffene Metapher dienen: „Das Feuer, mit wüsten Kiefern, frißt das Feld.“ Ist diese Wendung verwerflich oder zulässig? Ich behaupte, das hängt allein von dem ab, der sie prägte, und das ist kein Paradoxon. Nehmen wir an, in einem Café der Calle Corrientes oder der Avenida [9 de Julio] präsentiert ein Literat sie mir als sein eigen. Dann werde ich denken: Metaphern machen ist jetzt wohl ein vulgärer Zeitvertreib geworden; „verbrennen“ durch „fressen“ ersetzen ist kein glücklicher Tausch; das mit den Kiefern mag den einen oder anderen verblüffen, es ist aber eine Schwäche des Dichters, sich durch das redensartige „verzehrende Feuer“ hinreißen zu lassen, ein Automatismus; insgesamt: Null . . . Nehmen wir nun an, die Metapher wird mir präsentiert von einem chinesischen oder siamesischen Dichter stammend. Dann werde ich denken: Bei den Chinesen wird alles zum Drachen; und ich werde mir ein Serpentinenfeuer vorstellen, hell wie ein Fest, und es wird mir gefallen. Nehmen wir an, der Augenzeuge eines Brandes verwendet diese Metapher oder, noch besser, einer, dessen Leben durch die Flammen bedroht war. Ich werde denken: Diese Vorstellung eines Feuers mit Kiefern hat wahrlich etwas von Albtraum, von Grauen, und gibt einem bewußtlosen Ereignis etwas von abscheulicher menschlicher Bosheit. Der Satz ist beinahe mythologisch und ungeheuer kraftvoll. Nehmen wir an, man sagte mir, der Vater dieser Redewendung sei Aischylos und gesprochen habe sie Prometheus (somit sei sie wahr) und der angekettete Titan, von den beiden schlimmen Vollstreckern namens Kraft und Gewalt an einen Felsvorsprung gebunden, habe sie dem Okeanos gegenüber deklamiert, einem alten Caballero, der in einem Wagen mit Schwingen kam, sein Mißgeschick zu betrachten. Dann erschiene mir der Satz gut, sogar vollkommen, in Anbetracht der beiden außerordentlichen Dialogpartner und des (schon poetischen) entlegenen Ursprungs. Ich werde das gleich tun wie der Leser, der ohne Zweifel sein Urteil zurückhält, bis er sich vergewissert hat, von wem der Satz stammt. / FAZ 28.1.03

Anm. der FAZ: Der bisher auf deutsch unveröffentlichte Text von 1927 ist dem Band „Eine neue Widerlegung der Zeit und 66 andere Essays“ entnommen, der im Februar als 218. Band der „Anderen Bibliothek“ im Eichborn Verlag erscheint.

José Martí

In der FR gibt Karin Ceballos Betancur Tips anläßlich des kubanischen Nationaldichters und Freiheitshelden José Martí:

Wir möchten den Geburtstag von José Martí, der heute 150 Jahre alt geworden wäre, nutzen, um dem verwirrten Musikfreund, der Freiheit und Gerechtigkeit liebt, zu raten, die Versos sencillos als Buch zu lesen [statt als Guantanamera-Sound zu hören], Havana Club statt Bacardi Rum zu trinken und eine andere Platte mit anderen schönen Guajiras zu hören. So toll ist „Guantanamera“ sowieso nicht. /FR 28.1.03