Mehr geworden die Passionswege

1.025 Wörter, 5 Minuten Lesezeit.

Alexandru Bulucz wurde 1989 in der „Sozialistischen Republik Rumänien“ (SRR) geboren. Er lebt als deutscher Dichter in Berlin. Hier ein Gedicht aus einer Reihe, die sich mit dem Land seiner Geburt auseinandersetzen. Ich habe dem Gedicht ein paar Worterklärungen für Nachgeborene hinzugefügt.

Passionswege, wohin das Auge reicht

Auf der Fensterbank (offenes Fenster) in der Küche der Einzimmerwohnung,
die ich für meinen Aufenthalt in Alba Iulia bezogen habe. Günstigste Unterkunft
u. dementsprechend ihr Zustand. In der verdreckten Badewanne duschen,
das habe ich mich erst vorgestern getraut, nachdem ich sie sauber gemacht habe,

zwei Tage nach meiner Ankunft. Wir haben den 13. Februar. Zweimal schlafen,
dann Rückkehr nach Berlin. Es ist gleich 21 Uhr, in D. 20 Uhr.
Die App der Alba, jetzt nicht der Stadt, sondern des Entsorgungsunternehmens,
hatte vorhin darüber informiert, dass die Leerung der Wertstofftonne anstehe,

in Berlin-Waidmannslust – sie sei noch nicht voll, heißt es von zu Hause.
Vor drei Tagen hatten wir unnatürliche 18 °C in Alba. Jetzt regnet es bei 6 °C.
Irgendwo über mir sammelt sich Regenwasser an, das überläuft u. polternd
auf das Wellblech unter mir schlägt – das Blech fungiert als Dach eines Anbaus

am Wohnblock. Der Block trennt die Gladiolenstraße von der Brunnenstraße,
über der ich jetzt, im zweiten Stock, sitze u. schreibe u. von der ich blicken kann
zu den drei Türmen der orthodoxen Kirche Aussendung des Heiligen Geistes.
Die Achse zu der ein gutes Jahrhundert alten Dreifaltigkeitskathedrale

ergibt den Boulevard Transsilvanien. Den kreuzt der Boulevard der Revolution,
der das Krankenhaus beherbergt, in dem ich geboren wurde u. meinem Vater
nicht viel Zeit bleibt. Seinetwegen bin ich hier, unplanmäßig, aber absehbar.
Alles fußläufig von der Unterkunft. Was bleibt vom Aufenthalt?

Wenn er stirbt, komme ich bestimmt nicht wieder.
Verdreckter als früher der Mieresch u. der Ampoi, der in den Mieresch mündet,
niedriger als früher ihre Wasserstände. Verschwunden die am Straßenrand
ausgestellten, von Unfällen entstellten Karosserien, die abschrecken sollten

vor Fahren unter Alkoholeinfluss u./o. waghalsigem Überholen (nicht zuletzt
von Kutschen). Mehr geworden die Unfallkreuze, Passionswege,
wohin das Auge reicht. Gefühlt in jedem Block eine Praxis für Stomatologie –
ich hatte von Anfang an angenommen, Stomatologie komme von stomac,

rumänisch für Magen, u. Jahre im Glauben gelebt, es gehe um Magen-Darm,
denn die rumänischen Ess- u. Trinkgewohnheiten etc. pp., bis ich jetzt
auf der Fensterbank endlich recherchiere: Die Stomatologie, stoma, griechisch
für Mund, sei die Wissenschaft der Mund-, Kiefer- u. Zahnmedizin. In der BRD

vor 1989 habe sich der Begriff nicht durchsetzen können, anders als in der DDR.
DDR. SRR. Stomatologie. Eine weitere Wortwasserscheide zwischen Ost u. West.
Seine hellen Augenblicke im Krankenbett. Seine jung gebliebenen Hände.
Gitarrenspieler. Die Auswirkungen des Gitarrenspielens auf die Schlüsselbeine –

sein linkes war einst gebrochen. Sein freier Fall in Apathie. Glasiges Blicken
durch mich hindurch. Die Annahme der Ärztin, es könnte Magenkrebs sein.
Die Unmöglichkeit einer Diagnostik. Derart geschwächt, eine Magenspiegelung
könnte ihn umbringen. Das bisschen Freude darüber, dass er wieder isst.

Mein Einreden auf ihn, er solle nicht aufhören zu essen. Er braucht Spinat
wie Popeye der Spinatmatrose. Mein Unbehagen bei der Ankunft, ihn zu umarmen,
ihn auch nur zu umarmen. Meine Entfremdung von Vater u. vom sog. Vaterland,
was hier ja gar nicht passt, da er ein Ungar in R. ist, wenn auch dessen Staatsbürger.

Das Erblicken einer großen schwarzen Stelle auf seiner Zunge. Krebs vielleicht.
Ekel. Stomatologie. Parodontitis. Der völlige Verlust seiner Zähne Ende der 90er
u. seines Musikerberufs (neben Gitarre auch Stimme) – gehemmte Artikulation
der Liedtexte. Später Pförtner einer Psychiatrie. Die Kuren in Petersdorf

wegen der eigenen Psyche. Man solle ihm die Zahnprothese einsetzen,
wenn er begraben werde. Überall Apotheken. Windelkauf. Ständig seine Sorge
um den Geldbeutel. Armut. Seit nunmehr 24 Jahren schicke ich Geld aus D.
Anfangs heimlich Taschengeld, Mark. Grünlich gelb Bettina von Arnim. Bläulich violett

Carl Friedrich Gauß (der mit der Mütze). Bläulich grün Annette von Droste-Hülshoff.
Olivbraun Balthasar Neumann. Etc. pp. Seine fortgeschrittene Demenz. Mein Gedicht

Morbus Korsakow. Der Alkoholiker, Kettenraucher, Gewalttätige, Frauenschläger,
Traumatisierte, quasi Sohnverwaiste. Der Trotzallemkeinschlechtermensch.

Das literarische Potenzial der Trotzallemkeineschlechtenmenschen. Etc. pp.
Seine Geburt 1950 in Siebenbürgen, sechs Kilometer nördlich der Kleinen Kokel,
als R. noch VR war. Gheorghe Gheorghiu-Dej, Stalinisierung
Etc. pp.

Aus: DELFI. Magazin für Neue Literatur. #03. Herbst 2024, S. 69-71

Anmerkungen und Worterklärungen für Nachgeborene

Volksrepublik (VR)

Bezeichnung für mehrere sozialistische Staaten nach sowjetischem Vorbild nach 1945. In Rumänien hieß der Staat von 1947 bis 1965 „Rumänische Volksrepublik“. Der Begriff signalisiert formale Volkssouveränität, meinte faktisch aber eine Einparteienherrschaft unter kommunistischer Führung.


Sozialistische Republik Rumänien (SRR)

Staatsname Rumäniens von 1965 bis 1989. Die Umbenennung von „Volksrepublik“ zu „Sozialistische Republik“ markierte keinen Systemwechsel, sondern eine ideologische Akzentverschiebung unter Nicolae Ceaușescu. Die SRR blieb ein autoritärer Staat mit Partei- und Geheimdienstkontrolle.


Gheorghe Gheorghiu-Dej

Kommunistischer Politiker, Staats- und Parteichef Rumäniens von 1947 bis 1965. Er verantwortete die Stalinisierung des Landes: Kollektivierung der Landwirtschaft, Verstaatlichung, politische Säuberungen, Arbeitslager, Verfolgung von Oppositionellen und Minderheiten.


Stalinisierung

Übertragung des politischen, wirtschaftlichen und repressiven Systems der Sowjetunion unter Stalin auf andere sozialistische Staaten. Kennzeichen:

  • Personenkult
  • Zwangskollektivierung
  • Geheimpolizei
  • politische Prozesse
  • Einschränkung von Sprache, Mobilität und Bildung
    In Rumänien besonders stark in den 1950er Jahren.

Siebenbürgen

Historische Region im heutigen Rumänien, ethnisch und kulturell vielschichtig (Rumänen, Ungarn, Deutsche/Siebenbürger Sachsen). Nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der VR Rumänien; Minderheiten standen unter Assimilations- und Anpassungsdruck.


„Ungar in R.“

Verweist auf die ungarische Minderheit in Rumänien. Diese lebte im Sozialismus oft in einem Spannungsfeld aus Staatsbürgerschaft und kultureller Marginalisierung. Nationale Zugehörigkeit war politisch sensibel und konnte biografische Brüche erzeugen.


Stomatologie

In vielen sozialistischen Ländern – ebenso in der DDR – gebräuchliche Bezeichnung für Zahn- und Mundheilkunde (vom griechischen stóma = Mund). In der BRD setzte sich der Begriff Zahnmedizin durch. Das Wort fungiert im Text als Marker einer ostsozialistischen Bildungssprache.


Boulevard der Revolution

Typischer Straßenname in postsozialistischen Staaten, meist benannt nach der Revolution von 1989, die in Rumänien zum Sturz des Ceaușescu-Regimes führte. Solche Benennungen überschreiben ältere ideologische Topographien.


Petersdorf (Kuraufenthalte)

Kuren waren im Sozialismus verbreitet und oft staatlich organisiert. Sie dienten offiziell der Arbeitsfähigkeit, zugleich aber auch der Disziplinierung und Ruhigstellung psychisch oder sozial Auffälliger.


Mark (DM)

Westdeutsche Währung vor Einführung des Euro. Geldsendungen aus dem Westen waren für viele Familien in Ost- und Südosteuropa existenzsichernd. Sie markieren materielle wie emotionale Abhängigkeiten über Systemgrenzen hinweg.


„Morbus Korsakow“

Alkoholbedingte neurologische Erkrankung mit schweren Gedächtnisstörungen. In osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften häufig, bedingt durch:

  • Alkohol als Bewältigungsstrategie
  • fehlende Therapieangebote
  • soziale Marginalisierung

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