Moos und Kristall

367 Wörter, 2 Minuten Lesezeit.

Die zweite vergessene expressionistische Dichterin, an die Alfred Richard Meyer in seiner „maer von der musa expressionistica“ erinnert, ist Lore von Recklinghausen. Von ihr kennen die Antiquare ein paar mehr Bücher und es gibt das Minimum biografischer Information, dass sie 1898 geboren wurde, Rundfunkmitarbeiterin war und 1946 noch lebte. Meyer gibt auch von ihr zwei Gedichte ohne Überschrift (oder vielleicht Gedichtfragmente?), aber von ihr gibt er keine Quelle an, und ich habe auch keinen Gedichtband von ihr gefunden, nur Volkslieder um 1900 und Soldatenlieder, die sie gesammelt und in drei Anthologien zwischen 1935 und 1941 herausgegeben hat. Vielleicht hat sie um 1920 oder später Gedichte veröffentlicht oder wie Vegesack, über den er vor dem Zitat spricht, nach 1945? Hier ihre Geschichte in der musa expressionistica:

(…) vom Expressionistischen verblieb die expressio, der Ausdruck, das Abgewandte, das Verinnerlichte. So auch für Lore von Recklinghausen, die den „Großen Schritt“ erkannte und nun das Moos so zur Seele sprechen läßt:

Ich bin das Moos, bin das älteste Wesen, 
das sich das Urmeer gebar.
Ehe noch Gras und Getiere gewesen,
atmete ich in Gefahr.

Dürre und Frost und der Winde Drehen,
Fluten erschrecken mich nicht.
Alle Geburten und alles Vergehen
sah ich, und jedes Gericht,
das sich die Schöpfung heraus beschworen,
konnte ich überstehn.

Lerne du Seele, sonst bist du verloren,
und deine Spuren verwehn,
wie die Riesenechse und Farne
mit dem Schachtelhalmwald.
Weltenwenden vernichten, ich warne:
Nur das Weise wird alt.

Menschenseele, du jüngstes der Wesen,
werde beständig wie Moos.
Mächtiger bist du und auserlesen,
dann – wie kein zweites so groß.

Ein anderes Mal ist es, daß die Dichterin vor dem Kristall steht, der also zum Verstande spricht:

In den Kristallen ist erstarrt 
die Erde, durchsichtig und hart,
ein Spiegel dem Verstand.

Gott Logos hat sie so erbaut,
und wer durch ihre Formen schaut,
hat sein Gesetz erkannt.

So Klares mag der Mensch nicht seh'n,
will es vernebeln, es verdreh'n,
und dünkt sich sehr gescheit.

Dabei geht er wohl bald zugrund.
Die Erde dreht sich weiter rund.
Kristalle haben Zeit.

Aus: alfred richard meyer: die maer von der musa expressionistica. zugleich eine quasi-literaturgeschichte mit über 130 beispielen. düsseldorf: die faehre, 1948, S. 101f

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