Ein Gedicht von gewisser Länge

527 Wörter, 3 Minuten Lesezeit

Der Georg-Büchner-Preis 2025 geht an Ursula Krechel. In der Jurybegründung heißt es, dass Ursula Krechel mit ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur entgegensetze.

Ursula Krechel 

(* 4. Dezember 1947 in Trier)

Die Krise der Ballade ist vorbei!

Besteht noch gewisser Handlungspielraum
Zwischen ging und gegangen mitgefangen
Rasenden Kopfschmerzen Lebkuchenherzen.
Mein Balladenladen ist heute geöffnet

Schicksals-, Ideen-, und Legendenballaden
Zu ordnen und überschaubar zu machen
Sind eher nicht so großartige Sachen wie:
Fiel und mit Karacho umgefallen und nie

Aufgelöst in Wohlklang, reitet schnurstracks
Zur Mühle, löscht seinen Durst und wirft
Seinen Goldring in den tönernen Krug, Moose
Die weinen und Kieselsteine, die sich reiben

Da haucht es: Schau, eine Prozession ging
Und ging im Tal herum, verwirrte Gestalten
Taumelten hinter dem Lebensstrick. Und
Wußten nicht, wo sie auftreten sollten

In quirlend sprudelnd wörtlicher Rede oder
Zwischen Anführungszeichen und Zitaten.
Die Ballade ist ein Gedicht von gewisser
Länge; Formenstrenge braucht sie nicht.

Ritt ein Vater mit seinem Kind und fürchtete
Nicht den Reimzwang, wenn die Ingenieure
Erwachen, zusammengefahren im Nebel
Abgedrängt, Opfer haben nichts zu lachen

Erlkönig heißt ein Phantomautomobil
Jagt über die Straßen, Gänge knirschen
Scheucht von der Fahrbahn, wer im Weg
Wird verbannt, verschwindet im Nu

Ging ist gegangen worden und beworben
Harter Aufprall in den Dimensionen Klang
Und Schrift und action, wie die Handlung bellt
Auch ein alphabetisches Autorenregister

Hausschatz wie Bettschatz in dunkler Stube
Zitieren die Strophen, geht ein Atem heiß
Ums Haus und weiß nicht, ob er stocken soll
Wo Muhme und Mutter, das Kind ist ein Bube

Bettschatz wie Wortschatz, blinkend und
Prunkend, schlechte Wörter sind abgesunken
Mit rechten Dingen geht's zu, aber ohne
Beweiskraft, ohne Balladensaft, staubtrocken

Konjugationsmuster, verschnürt in Schachteln
Mottenkugeln kullern, Frisuren nach Schema F
Stimmung ist Fehlen von Nüchternheit
Während jegliches Reimschema zerschellt

Wispern von Stimmen aus alten Büchern
Einschlagen von schwitzigen Händen in
Kalte Tücher, wäre Pfarrer Kneipp gekommen
Help! Help! Oder: Krawitt! Ein Vogelbad im See.

Spätromantik und Kunstballade, märchenhafte
Motive, Vermeidung von grellen Kontrasten
Nur nicht durch Strophen hasten, die – geschenkt –
Ursprünge aufzeigen, sich neigen wäre Lesen

Wie Atmen gewesen und Atmen ist Tanzen
Hasten und Heulen, Verben wie Sterben
Vererbensgelächter unter der Treppe ein Ort
In Nacht und Wind befreundet mit Stanzen

Zeugnis der produktiven Zusammenarbeit Altlasten
Auf den Tasten ökonomisch als Datei vereinigt
Unerhörte Geschehnisse wie Mordbrennen, Sennen
Feuerbesprechen sowie das Brechen des Fastens

Handlungsgedicht, Wörtergericht, lichterloh
Zum Pfählen, Hängen, Brennen im Büßer=
Gewand, geköpft das Ur-Ei, weichgekocht
Aus'm Loch gebracht vom Henker, Priester

Segnet, ging, empfing — reißt, riß, gerissen
Die Leine: Roß und Reiter verknoten die
Zügel, Stimme schlug über, Schlagabtausch
Blutrausch und hingerissen, hin und weg

Vokale sind Schakale, fallen unschuldige
Esser an, die Balladenkerne spucken
Sich balgen, das blutige Maul zerreißen
An den Eingeweiden der Sprache, Knochen

Knacken die Geste der Zerstörung, Klang=
Zellenarbeit, Feinschliff, Zermalmung des
Grotesken, Kraftakt wie Kraftfutter: Verb
Vom Verb wie Fleisch vom Leder gezogen

Als längst die Mitternachtsglocke rief
Da war's nicht schaurig, glasklar war's
Befeuchtet mit einem Realismuskonzept
Kind war tot als ein besonderes Ereignis.

Aus: Ursula Krechel: Jäh erhellte Dunkelheit. Gedichte. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2010, S. 33ff

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