Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Die von Marion Poschmann und Yoko Tawada zusammengestellte Anthologie jüngerer japanischer Dichtung trägt auf dem Einbanddeckel nur Text in den Sprachen Deutsch und Japanisch. Aber das große Zeichen in der Mitte ist auch ohne bildliche Zutat dekorativ. Es ist das japanische Zeichen für Poesie oder Dichtung, es besteht aus zwei Hälften, von denen die linke „sagen“ und die rechte „Tempel“ bedeuten. Ausgesprochen wird das Wort „shi“. Seine Bedeutung umfasst aber nicht das, was wir am ehesten mit japanischer Dichtung assoziieren, Tanka oder Haiku. Diese sind eine Welt für sich und bemerkenswert produktiv – 6 Millionen Japaner schreiben Haíku und 3 Millionen Tanka. „Shi“ ist nur die von westlicher Poesie beeinflusste Dichtung. Beide, soll ich sagen „Poesien“ leben für sich, die Millionen Haiku- und Tankadichter kommen kaum je mit „shi“ in Berührung und die meisten Verfasser von „shi“ schreiben nicht in diesen traditiinellen japanischen Formen. Der heutige Dichter ist eine Ausnahme, er bewegt sich in beiden Welten. Alles das und viel mehr kann man dem Vorwort der in Deutschland lebenden Yoko Tawada entnehmen.

Ich habe den Titel von Google übersetzen lassen, sie erkennen korrekt Japanisch und übersetzen das große Zeichen mit „Poesie“ und den Titel der Anthologie mit „Die sanfte Grenze des Lichts“. (Merkwürdiger Weise übersetzten sie, einmal in Fahrt, auch den deutschen Titel noch einmal ins Deutsche, aus „Eine raffinierte Grenze aus Licht“ wurde so „Sie sind verfeinerte Grenzen aus Licht“. Merkwürdig, aber nicht unbedingt falsch. Da in der japanischen Sprache weder Genus noch Artikel noch Pluralformen existieren, muss man sich weniger festlegen als im Deutschen und hat per se poetische Leerstellen zur Verfügung.)

KANIE Naha (カニエ・ナハ)
Haushalt
Wieder zurück
in der Bildlosigkeit,
falschen Angaben Glauben schenkend,
während auf der Straße der Menschenkrieg weiterging.
Ein Nachbar, ich hab ihn vergessen,
gibt ein neues Haus auf,
das sein Leben war,
und kehrt um, wir schweigen
seit mehr als zehn Jahren, Barmherzigkeit bildet ein Dach,
wir wiegen uns in Sicherheit, ein einziges
Weltwort ist uns geblieben.
Notate,
eingebrannt in die Armbeuge.
Am Schluss einer Petition
wird dem Menschen
die Empathie abgesprochen.
Deutsch von Marcel Beyer nach einer Rohübersetzung von Yoko Tawada, aus: Eine raffinierte Grenze aus Licht. Japanische Dichtung der Gegenwart. Hrsg. Marion Poschmann und Yoko Tawada im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Göttingen: Wallstein, 2023, S. 177.
(In japanischen Namen wird der Familienname vorangesetzt, also hier Kanie, und Naha ist der Vorname. Nur im Westen lebende Japaner passen die Schreibweise hiesigen Gepflogenheiten an und stellen den Vornamen voran, wie Yoko Tawada oder Yoko Ono.)
Die Anthologie im Lyrikwiki
Ist das Buch zweisprachig? Wenn die Gedichte auch auf Japanisch drinnen sind, kaufe ich es mir eher.
LikeLike
Nur teilweise – dieses aber nicht
LikeLike
Wenn ich mich nicht verzählt habe, sind es 26 Seiten mit dem japanischen Text
LikeLike
Das Zeichen 詩 (heute vereinfacht auch 诗) bedeutet auf Chinesisch seit ungefähr 3000 Jahren Poesie, Gedichte und Lieder. Lieder und Gedichte waren ursprünglich nicht getrennt, soviel ich weiß, wie auch anderswo. Die geschriebene japanische Sprache entstand aus chinesischen Zeichen. Das begann im 7. Jahrhundert allgemeiner Zeitrechnung. Klassische chinesische Gedichte werden bis zur Tang-Dynastie (7.-10. Jahrhundert) allgemein als 詩 bezeichnet. Auch danach sind die Formen, die als traditionelle 詩 gelten, sehr häufig, sie werden bis heute verwendet. Kinder in Japan lernen klassische chinesische Gedichte in der Schule. 詩 ist auch auf Chinesisch das Zeichen für Poesie generell, also auch für moderne Gedichte, die sich nicht unbedingt reimen müssen und keinen allgemein verbindlichen Regeln der Silbenzählung, also etwa fünf oder sieben Silben pro Vers, unterworfen sind. Da japanische Kinder 詩 schon recht früh als traditionelle chinesische Gedichte kennenlernen, sollte man wahrscheinlich nicht einfach sagen, 詩 sei „nur die von westlicher Poesie beeinflusste Dichtung“. Ich weiß nicht, was Yoko Tawada in dem Vorwort genau sagt.
LikeLike
Ich paraphrasiere nur ihre Worte und muss ihr wohl glauben, dass es im Japanischen so ist.
„Das Zeichen [shi] wird im Japanischen shi ausgesprochen und bezeichnet heute im Allgemeinen Gedichte. Es schließt jedoch Haiku und Tanka aus, obwohl diese traditionellen Formen keineswegs ausgestorben sind. Laut einer Statistik sind es 6.000.000 Menschen in Japan, die heute regelmäßig Haiku schreiben und veröffentlichen. (…) Umgekehrt schreibt kaum jemand der Shi-Dichter Haiku oder Tanka.“
LikeLike
Meine etwas hemdsärmelige Erklärung zu dem Gattungsproblem: die einzelnen Gattungen sind Gebrauchsformen. Man wusste wozu und wie man die Einzelgattungen benutzte. „Lyrik“ als Oberbegriff wurde das für uns endgültig im 18. Jahrhundert im Maße, wie diese Gattung aus dem öffentlichen Gebrauch verschwand. Dramen braucht man fürs Theater, Romane zu Unterhaltung und Weltwissen, und „Lyrik“ eben zu nichts mehr. Eine „Gattung“ für Splittergruppen und (noch) für Deutschlehrer.
LikeLike
Eine Anmerkung zu „Lieder und Gedichte waren ursprünglich nicht getrennt“. Für Chinesisch kann ich das nicht beurteilen, aber zum Beispiel bei den alten Griechen waren ursprünglich Lied, Elegie und andere Dichtarten nicht allesamt Lyrik (wie heute für uns). Lyrik wurde gesungen und von der lyra begleitet, Elegie rezitiert und vom Aulos (Doppelflöte) begleitet. Erst später wird von manchen Lyrik als Oberbegriff für eine „Hauptgattung“ gesetzt. Aber noch Opitz nennt sie getrennt als Dichtarten wie Epos, Elegie und Lyrik (das ist für ihn nur die gesungene, liedhafte Dichtung). Die Opitzschülerin Sibylla Schwarz unterscheidet streng zwischen Lied (kurze metren, gesungen) und Gesang (eine „heroische“ Dichtung in Alexandrinern). Für uns ist das freilich alles „Lyrik“.
LikeLike