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Gad Kaynar-Kissinger
(* 26. Juni 1947 in Tel Aviv, Israel)
DAS LIED VON RE'IM
7.10.2023
Die Hamas schoss ihnen ins Gesicht.
Der Staat schoss ihnen in den Rücken.
Es erwies sich, dass es keiner Gruben bedarf
wie in Ponary oder in Babyn Jar.
Auch auf offener Ebene kann man Juden ermorden.
Sogar ohne sie auszuziehen.
Ohnehin sind sie halb nackt.
Eines Tages wird man dort auf dem Feld in Re'im
alles einsammeln,
die Flip-Flops, die Wodkaflaschen, die Rucksäcke,
die Schlafsäcke, die zertretenen Brillen, die verstreuten Handys,
und sie in einem Museum ausstellen
fein säuberlich getrennt:
Flip-Flops separat, Flaschen separat, Rucksäcke separat,
die Ermordeten separat, die Entführten separat.
Und die Geretteten wird man die Überlebenden von Re'im nennen
damit sie nicht als Opfer erscheinen
und jemand wird über sie „Das Lied von Re'im" schreiben
das man singen wird am „Gedenktag für Horror und Heroismus".
Und die Schüler werden nach Re'im fahren statt nach Polen.
Das ist billiger.
Und jemand wird eine Rede halten: Wer hätte geglaubt
dass im Judenstaat ein solches Pogrom möglich ist. Und jemand wird korrigieren:
Kein Pogrom. Schoah – Schoah.
Der Vergleich ist gestattet.
Und das Land wird Ruhe haben
vierzig Minuten lang.
Aus: Gad Kaynar-Kissinger: Höchste Gefahr. Gedichte. Aus dem Hebräischen von Liliane Meilinger. Berlin: PalmArtPress, 2024, S. 71f. Darin folgende Anmerkung:
Das hebräische Wort „re’im“ bedeutet enge Freunde.
So heißt ein Kibbuz in der Nähe des Gazastreifens, in dem viele Bewohner am 7. Oktober 2023 massakriert, enthauptet, vergewaltigt und entführt wurden. Der Name bezeichnet auch ein offenes Feld in der Nähe, auf dem Tausende in freier Natur eine Rave-Party feierten. Sie wurden von Hamas-Terroristen angegriffen, mehr als 300 Menschen wurden getötet, weitere nach Gaza verschleppt. Die Ironie will es, dass „re’im“ auch auf „re’ut“ – enge Freundschaft, Kameradschaft – verweist. Das gleichlautende Lied, „Schir ha-re’ut“, wurde im Gedenken an die Gefallenen des israelischen Unabhängigkeitskriegs von 1948 verfasst. Es war das Lieblingslied Jitzchak Rabins, das seit seiner Ermordung im Anschluss an eine Friedensdemonstration am 4. November 1995 untrennbar mit seinem Namen verknüpft bleibt.
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