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Da wir beim Nachtragen sind. Nachzutragen ist der gestrige 100. Geburtstag von Wolfgang Bächler. Zu einem Auswahlband früher Gedichte hatte der Verlag S. Fischer dies zitiert:
»Das Beste und Interessanteste, was es an deutscher Lyrik seit Brechts Tod neben Peter Huchel gibt.«
Ernst Bloch, Tübingen 1963
»Daß Bächler in die Geschichte der Nachkriegslyrik gehört, ist selbstverständlich, muß aber wohl wiederholt werden, und etwas ebenso Selbstverständliches außerdem: daß ein schmales (was nicht bedeutet: kleines) Werk nicht nur Gewicht behält, möglicherweise an Gewicht zunimmt.«
Heinrich Böll, Süddeutsche Zeitung
Und hat es genützt?
Hier ein Gedicht aus den 1950er Jahren.
Wolfgang Bächler
(* 22. März 1925 in Augsburg; † 24. Mai 2007 in München)
ORNITHOLOGENKONGRESS
Dreihundertachtzig Ornithologen aus aller Welt
tagten in Upsala, – Zoologen, Seelsorger, Maler,
Kulturfilmproduzenten, Tierärzte, Dichter, Studenten.
Nur die Russen erklärten bedauernd,
durch Expeditionen im Inland verhindert zu sein*.
Sie schickten Brieftaubengrüße.
Mister Sibson aus Auckland – Neuseeland –
zeigte im Film den neu entdeckten Vogel
Takake Notornis,
den es nur fünfzigmal gibt auf der Welt, –
Großaufnahmen im Flug, Nahrungsraub, Liebesspiel,
Brüten, die Brut, – Kolumbuseier des Vogelkolumbus.
Doktor Krämer aus Bremen erklärte
das Rätsel des Zugvogelflugs
durch den Einfallwinkel des Lichts,
der die Richtung der Stare bestimmt,
der Tagzieher.
Der Fahrplan nächtlicher Flüge blieb ungelöst.
Nach roten und schwarzen Marken am Schnabel
der Alten picken die jungen Silbermöven.
Rot und schwarz
sind auch für Vögel magnetische Farben,
bemerkte Professor van Hoopen aus Utrecht.
Doktor Lack aus Oxford belichtete
das Gleichgewicht der Bevölkerungsdichte,
das er an einer Vogelart in Jahrzehnten
statistisch erforscht hat:
Bei Bevölkerungsüberschuß
nimmt die Sterblichkeit zu. Auch Wanderflüge
von Vogelsippen in neue Gebiete
sind in die Gleichung von Zeugung und Tod,
Geburt und Sterblichkeit einbezogen, –
Bioökonomie.
Am dritten Abend beim Abschiedsdinner
brachen Kolibrischwärme
in die Versammlung der Pinguine ein.
Fischreiher zogen weiße Schleifen.
Dreihundertvierundsiebzig seltsame Vögel
flogen im Morgengrauen wieder gen Süden.
Aus: Wolfgang Bächler, Ausbrechen. Gedichte aus 30 Jahren. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1976, S. 42f
*) Ob nach Budapest oder Charkiw ist nicht überliefert. Anmerkung 2025
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