Um ein Gedicht zu schreiben

Kenneth Koch

(Geboren am 27. Februar 1925, heute vor 100 Jahren, in Cincinnati, Ohio, gestorben am 6. Juli 2002 in New York City, amerikanischer Dichter der New York School)

Aus: Die Dichtkunst

Um ein Gedicht zu schreiben, ist tadellose körperliche
Verfassung
Wünschenswert, jedoch keineswegs nötig. Keats hat
Bei schlechter Gesundheit geschrieben, D.H. Lawrence
ebenso. Ein Zusammenwirken
Von Krankheit und Alter ist hinderlich beim Dichten, aber
Keines von beiden für sich allein genommen, es sei denn
Arteriosklerose, sprich
Verkalkung der Gefäße, doch wollen wir das als eine mit dem Alter
Einhergehende Erkrankung verbuchen und somit als
negativen Begleitumstand.
Geistige Gesundheit ist sicher keine Grundbedingung für
Die Erschaffung poetischer Schönheit, allerdings scheint ein
gewisses Maß
Davon günstig, bis auf seltene Ausnahmefälle. Schizophrene Dichtung
Ist gern vage, zusammenhanglos, unkritisch gegenüber sich
selbst, in mancherlei Hinsicht also
Ähnlich den besten Beispielen unserer modernen Dichtkunst,
Andererseits aber verschieden von diesen in ihrem
mangelnden Sinn
Für Verdichtung und feinere Nuancen. Ein paar große Werke
Von angeblich «wahnsinnigen» Dichtern sind uns natürlich
allen vertraut,
Etwa die von Christopher Smart, bloß frage ich mich, wie
verrückt sie eigentlich waren,
Diese Dichter, die derart anspruchsvolle Versgebilde schaffen konnten.
Blake und «wahnsinnig», das erscheint mir schon sehr unwahrscheinlich.

Aber wie steht's mit Wordsworth? Nicht verrückt, meine ich,
doch was ist mit seinem späteren Werk, langweilig
Bis an die Grenze des Schwachsinns, und erst seine
zerstörerischen «Korrekturen»
Am Prelude, während das Gedicht weitergründelte durch die Untiefen der Kunst!
Er war wirklich schauderhaft nach seiner «Ode:
Intimations of Immortality from Recollections of Early
Childhood», weitestgehend
Jedenfalls, finde ich. Auch Walt Whitmans «Korrekturen» an
seinen Leaves of Grass,
Und speziell dem «Song of Myself», sind beinah durchweg fürchterlich.

Gibt es überhaupt einen Weg, seine alten Tage zu erreichen
und Ruhm und Anerkennung,
Voll Stolz auf das Geleistete und im Wissen um
gesellschaftliche Akzeptanz,
Ohne daß man lausiger und lausiger wird und jegliches Talent
flöten geht? Ja,
Yeats zeigt, daß das klappen kann. Und Sophokles hat
gedichtet, bis er hundertundeins war
Oder hundert, immerhin, hat Wein gesoffen und die Nächte durchtanzt,
Allerdings war der ein Alter Grieche und hilft uns
möglicherweise hier nicht. Dann
Wiederum vielleicht sehr wohl. In gewissem Sinne geht es offenbar
Darum, zu wachsen und sich weiterzuentwickeln und dabei
doch jung zu bleiben –
(...)

Deutsch von Uli Becker, aus: Zwischen den Zeilen. Eine Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik. Nr. 16, Oktober 2000, S. 87/89

From: The Art of Poetry

To write a poem, perfect physical condition
Is desirable but not necessary. Keats wrote
In poor health, as did D. H. Lawrence. A combination
Of disease and old age is an impediment to writing, but
Neither is, alone, unless there is arteriosclerosis-that is,
Hardening of the arteries—but that we shall count as a disease
Accompanying old age and therefore a negative condition.
Mental health is certainly not a necessity for the
Creation of poetic beauty, but a degree of it
Would seem to be, except in rare cases. Schizophrenic poetry
Tends to be loose, disjointed, uncritical of itself, in some ways
Like what is best in our modern practice of the poetic art
But unlike it in others, in its lack of concern
For intensity and nuance. A few great poems
By poets supposed to be «mad» are of course known to us all,
Such as those of Christopher Smart, but I wonder how crazy they were,
These poets who wrote such contraptions of exigent art?
As for Blake's being «crazy,» that seems to me very unlikely.

But what about Wordsworth? Not crazy, I mean, but what
about his later work, boring
To the point of inanity, almost, and the destructive
«corrections» he made
To his Prelude, as it nosed along, through the shallows of art?
He was really terrible after he wrote the «Ode:
Intimations of Immortality from Recollections of Early
Childhood,» for the most part,
Or so it seems to me. Walt Whitman's «corrections,» too, of
the Leaves of Grass,
And especially «Song of Myself,» are almost always terrible.

Is there some way to ride to old age and to fame and acceptance
And pride in oneself and the knowledge society approves one
Without getting lousier and lousier and depleted of talent? Yes,
Yeats shows it could be. And Sophocles wrote poetry until he
was a hundred and one,
Or a hundred, anyway, and drank wine and danced all night,
But he was an Ancient Greek and so may not help us here. On
The other hand, he may. There is, it would seem, a sense
In which one must grow and develop, and yet stay young—

Ebd. S. 86/88

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