Mondlied, Frauenlied

Anne Sexton 

(* 9. November 1928 in Newton, Massachusetts; † 4. Oktober 1974, heute vor 50 Jahren, in Weston, Massachusetts)

Mondlied, Frauenlied

Ich bin lebendig bei Nacht.
Ich bin tot am Morgen,
ein altes Schiff, das sein Ol aufgebraucht hat,
kahl und blaßknochig.
Kein Wunderding. Kein Glanzstück.
Ich bin schlecht in Schuß,
doch du bist groß in deinem Kampfanzug
und ich muß mich rüsten für deine Reise.
Ich war immer Jungfrau,
alt und narbig.
Ehe die Welt war, war ich.

Ich werde orangener und dick, karottenfarben, angestarrt,
lasse zu, daß meine angebrochenen O's aufs Meer fallen
bei Venedig und Mombasa.
Über Maine hab ich Pause gemacht.
Ich bin wie ein Flugzeug in den Pazifik gestürzt.
Ich habe Meineid geleistet über Japan.
Ich hab mein Pendel, meinen prallen Beutel,
mein Gold, Gold, schimmerndes Licht
über euch allen
geschwungen.

Wenn du also erkunden mußt, tu es.
Schließlich bin ich nicht künstlich.
Ich habe lange auf dich geschaut,
liebesschwanger und leer,
ließ meine ewige Leuchtreklame flackern
für dich, du mein kalter kalter
Schutzanzugmann.

Du brauchst nur zu bitten
und ich gewähr's.
Es steht praktisch fest,
daß du in mich einmarschierst wie in eine Kaserne.
Also peil mich an, peil mich an,
du vom Abschuß,
du von der Bastion,
du von dem Programm.
Ich mach mein wulstiges Auge zu,
Hauptquartier eines Gebiets,
Haus eines Traums.

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz, aus: Anne Sexton: Liebesgedichte. Love Poems. Zweisprachige Ausgabe. Hrsg. Elisabeth Bronfen. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Vorwort von Silvia Morawetz. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1997, S. 86ff

MOON SONG, WOMAN SONG

I am alive at night.
I am dead in the morning,
an old vessel who used up her oil,
bleak and pale boned.
No miracle. No dazzle.
I'm out of repair
but you are tall in your battle dress
and I must arrange for your journey.
I was always a virgin,
old and pitted.
Before the world was, I was.

I have been oranging and fat,
carrot colored, gaped at,
allowing my cracked o's to drop on the sea
near Venice and Mombasa.
Over Maine I have rested.
I have fallen like a jet into the Pacific.
I have committed perjury over Japan.
I have dangled my pendulum,
my fat bag, my gold, gold,
blinkedy light
over you all.

So if you must inquire, do so.
After all I am not artificial.
I looked long upon you,
love-bellied and empty,
flipping my endless display
for you, you my cold, cold
coverall man.

You need only request
and I will grant it.
It is virtually guaranteed
that you will walk into me like a barracks.
So come cruising, come cruising,
you of the blast off,
you of the bastion,
you of the scheme.
I will shut my fat eye down,
headquarters of an area,
house of a dream.

Sextons Wirkung ging über den Kreis derer, die traditionell Lyrik lasen, hinaus. Dies belegen die hohen Verkaufszahlen ihrer Bücher, die bis Ende der achtziger Jahre in mehr als einer halben Million Exemplaren abgesetzt waren. Sie suchte aber auch selbst nach Öffentlichkeit außerhalb der Milieus, in denen Lyrik zirkulierte, beteiligte sich an Read-ins gegen den Vietnamkrieg und trat zwischen 1968 und 1971 mit einer fünfköpfigen Band auf, die sich in Anlehnung an den Titel eines ihrer frühen Gedichte den Namen Anne Sexton and Her Kind gegeben hatte, und trug ihre Lyrik zu Kompositionen der Bandmitglieder in einer Art Sprechgesang vor.

Aus dem Vorwort von Silvia Morawetz

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