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Claus Bremer
(* 11. Juli 1924 in Hamburg; † 15. Mai 1996 in Forch)
Schreiben um – trotz Wirtschaftsdruck – offen zu halten. Seit 1966 kommentiere ich meine konkrete Poesie. Wie – beispielsweise – in diesem Essay. Ich führte den Kommentar des Autors als Bestandteil des Gedichts ein. Beispiel im Beispiel: Die Sitzende.

Naivität zu glauben, die Frau wird gelesen. Der Blickfang ist alles. Was hat die für Busen? Wer ist das? Seine Frau? Nichts von Gleichsetzung Form und Inhalt.
Dass hier Frau, Ganzheitsbezug, Nacktheit, Natur, mit der Unbesiegbarkeit der Revolution und ihrem Wiederaufstehen gleichgesetzt werden, kommt nicht zur Diskussion. Die Wirtschaft, die Werbung hat der Frau ihren Platz zugewiesen: die nackte Frau als Bassin der Kaufgelüste, als Köder an der Angel des Konsumzwangs. Wozu also die Mühe, und sich erlesen, was im Zweifelsfall von Wasserwerfern, Gummigeschossen, Tränengas etc. berichtigt wird.
Das Bild wird nicht mehr gelesen, das Wort nicht mehr gepackt, nicht mehr ins Verhältnis gesetzt. Das Wort entzieht sich. Bild und Wort sind Klischee geworden. Das heisst, Bild und Wort werden nur soweit aufgenommen, wie sie Klischee geworden sind, Computer-Nahrung, Objekte für den Taschenrechner. Beispiel: die stehende Taube (sie ist von meinen Tauben die bekannteste, hat Weltreisen in der Volière von Ausstellungen konkreter Poesie gemacht). Ein Blick: Taube, gut zu erkennen, sauber getippt. Die Frage nach der Bedeutung steht nicht zur Debatte. Für die einen ist Taube = Friedenstaube = kommunistisch angehaucht, für die anderen Heiliger Geist, was das auch immer heisst, jedenfalls christlich. Auch der Text, aus dem die Taube getippt ist, wird nicht gelesen. Die Werbung hat daran gewöhnt, dass Texte in Bildform das im Bild Gesagte wiederholen.
Aus: Claus Bremer, Farbe bekennen. Mein Weg durch die konkrete Poesie. Ein Essay. Zürich: orte-Verlag, 1983, S. 46f.
Kommentar der Lyrikzeitung
Von Deutschlehrern würde ich mir wünschen, dass sie nicht versuchen zu interpretieren, sondern Sehen und Lesen ermutigen. Wenn man hinsieht, bemerkt man, dass in jeder Zeile ein einziges Wort steht, das unterschiedlich oft wiederholt wird, je nach Zeilenlänge bzw. Zeichnung vorn oder hinten abgeschnitten. . Vielleicht bemerkt man nach ein paar spielerischen Versuchen, dass die Wörter jeder Zeile von oben nach unten, wenn man sie nur einmal spricht, einen zusammenhängenden Text ergeben. Da der Scan nicht sehr deutlich lesbar ist, gebe ich die Wörter und Satzzeichen der Zeilen, aus denen das Bild besteht, hier je einmal untereinander:
Ordnung
herrscht
;
So
läuft
die
Meldung
der
Hüter
der
Ordnung
,
jedes
halbe
Jahrhundert
von
einem
Zentrum
des
weltgeschichtlichen
Kampfes
zum
andern
.
Ihr
stumpfen
Schergen
!
Eure
Ordnung
ist
auf
Sand
gebaut
.
Die
Revolution
wird
sich
morgen
schon
rasselnd
wieder
in
die
Höh
richten
und
zu
eurem
Schrecken
mit
Posaunenklang
verkünden
:
ich
war
,
ich
bin
,
ich
werde
sein
.

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