Von der Schwierigkeit, 17 Silben zu übersetzen

Heute eine Passage über das Übersetzen von (japanischen) Gedichten, gefolgt von mehreren teilweise extrem verschiedenen Übersetzungen desselben Gedichts. Die Einleitung ist von Manfred Hausmann:

Eins der bewegendsten japanischen Gedichte, verfaßt übrigens von einer Frau, lautet:

Asagao ni
tsurube torarete
morai-mizu.

Wenn man es wörtlich ins Deutsche übersetzt, ergibt sich folgende Aussage:

Von der Winde
des Zieheimers beraubt
geschenktes Wasser.

Für unser Empfinden stellt das gewiß kein Gedicht dar. Ja, man kann nicht einmal behaupten, daß der Sinn der Wörter, die in einer Art von Telegrammstil aneinandergereiht sind, ohne weiteres deutlich wird. Erst nach einigem Nachdenken beginnt man zu verstehen, was die Dichterin, Frau Kaga no Chiyo, die zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts lebte, damit dartun wollte:

Während der Nacht hat sich eine Winde um den Eimer meines Ziehbrunnens gerankt. Sie ist so schön, daß ich es nicht über mich vermag, sie zu zerstören. Ich verzichte deshalb lieber auf den Gebrauch des Eimers und hole das Wasser beim Nachbarn.

Eine solche umständliche Übersetzung vermittelt zwar den verstandesmäßig erfaßbaren Inhalt des kleinen Gebildes, kann aber nicht beanspruchen, eine Übertragung, eine Hinübertragung in die deutsche Sprache, eine lebenatmende Nachschöpfung zu sein. 

Aus: Liebe, Tod und Vollmondnächte. Japanische Gedichte. Übertragen von Manfred Hausmann. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1951, S. 5.

Es folgen mehrere Übersetzungen dieses Haikus in deutscher und englischer Sprache. Manchmal wird man Mühe haben, zu erkennen, dass es sich um dasselbe Gedicht handelt. (Auch der Name der Verfasserin schwankt – es handelt sich trotzdem immer um dieselbe Dichterin, Chiyo-ni (1703-1775).

Eine blühende Winde
hat sich um meinen Brunneneimer gerankt.
Ich schöpfe das Wasser beim Nachbarn.

Kaga no Chiyo, deutsch von Manfred Hausmann, aus: Liebe, Tod und Vollmondnächte, a.a.O. S. 28

Taubeglänzte Spinne, du verschuldest, 
Daß ich bei Fremden Wasser schöpfen muß,
Denn du hast über Nacht
Meinen Ziehbrunnen versponnen.

Kaga no Chiyo, deutsch von Werner Helwig, aus: Wortblätter im Winde. Nachdichtungen japanischer Texte. Hamburg: Goverts, 1945, S. 63

AM BRUNNEN
von FRAU CHIYO

Windenblüten schlingen sich um des Brunnens Seil,
Ich kann die zarten Blüten nicht zerstören, –
Lieber bitt ich den Nachbarn um Wasser und laß sie heil.

Deutsch von Paul Lüth, aus: Frühling Schwerter Frauen. Umdichtungen japanischer Lyrik … von Paul Lüth. Berlin: Paul Neff, 1942, S. 127

The morning glory!
It has taken the well bucket,
I must seek elsewhere for water.

Andere Version aus derselben Quelle:

morning glory!
the well bucket-entangled,
I ask for water

Quelle: https://allpoetry.com/items/read_by/Kaga%20no%20Chiyo?kind=poem&last_i=13621620&page=1. Dort gibt es auch eine ausführliche Interpretation des kleinen Gedichts. Obwohl im Text behauptet wird, es sei von Issa, steht am Kopf der Seite und in der Webadresse der Name unserer Dichterin als Kaga no Chiyo. Morning glory ist hier übrigens der Name einer Pflanze, die von anderen als Winde übersetzt wird. Oder handelt es sich tatsächlich um ein Haiku von Issa mit demselben Motiv? Dagegen spricht, dass die anderen Gedichte davor und danach von Frau Chiyo sind. Dass es sich um dasselbe Gedicht dieser Dichterin handelt, wird auf einer anderen Webseite mit mehreren englischen Versionen deutlich, die alle die Pflanze Morning Glory nennen. Hier die Übersetzungen dieser Seite mit einem kleinen Vorspruch.

One of the most famous haiku, by Chiyo-Ni – 千代尼 (1703- 2 October 1775), also known as Fukuda Chiyo-ni – 福田 千代尼, or Kaga no Chiyo – 加賀千代 (Chiyo from Kaga.)

朝顔に
釣瓶とられて
貰い水

asagao ni
tsurube torarete
morai mizu

the morning glory
took the well-bucket away from me –
I go to the neighbour for water

The morning glory!
It has taken the well bucket,
I must seek elsewhere for water.

the morning glory
beat me to it …
I go to the neighbour to fetch water
(Tr. Gabi Greve )

morning glory !
the well-bucket entangled
I ask for water
(Tr. Donegan and Ishibashi)

my well bucket
taken by the morning glory—
this borrowed water
(Tr. Ueda Makoto)

Quelle: https://suisekiblog.wordpress.com/2018/06/15/haiku-asagao/

Mehr über die Autorin beim Lyrikwiki

5 Comments on “Von der Schwierigkeit, 17 Silben zu übersetzen

      • Hier zwei weitere Übersetzungen:

        Um mein Brunnenseil
        rankte eine Winde sich –
        gib mir Wasser, Freund!

        Von Gerolf Coudenhove aus: „Vollmond und Zykadenklänge“, Gütersloh 1955

        Die Trichterwinde
        umrankt mir morgens den Eimer –
        Dann halt Wasserholen beim Nachbarn…

        Von Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller aus: „Haiku“ Ditzingen (oder Stuttgart?), jedenfalls Reclam 2017

        Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..