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Heute vor 100 Jahren wurde in Czernowitz, der Stadt, wo Bücher und Menschen lebten, das Mädchen Selma Merbaum geboren (bekannt wurde sie unter dem Namen Meerbaum-Eisinger). Der Großvater ihrer Mutter, ihr Urgroßvater, war auch der Urgroßvater Paul Celans. Selma Merbaum verlor den Vater, Max Merbaum, im frühen Kindesalter, er starb 1926 an Tuberkulose. Seine Mutter heiratete später Leo Eisinger. Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, gehörte nach der Auflösung der Habsburger Monarchie zu Rumänien, die Hälfte der Bevölkerung waren Juden, man sprach in der Schule Rumänisch und zu Hause Deutsch. Zahlreiche deutsche Dichter und Dichterinnen gingen aus der Kulturstadt hervor: Paul Celan, Rose Ausländer, Alfred Kittner, Immanuel Weissglas, Alfred Margul-Sperber, Ilana Shmueli, Klara Blum, David Goldfeld, Alfred Gong, Moses Rosenkranz und Manfred Winkler. Und Selma Merbaum.
Im mit Nazideutschland verbündeten Rumänien wurden die Juden schikaniert. Als am 26. Juni 1940 die Sowjetunion die Abtretung Bessarabiens und der nördlichen Bukowina von Rumänien erzwang, glaubten viele zumal sozialistisch orientierte Juden, dass jetzt alles besser würde. Aber tausende wurden nach Sibirien deportiert. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion rückten am 5. Juli 1941 rumänische Truppen in Czernowitz ein. Eine neue Stufe der Judenverfolgung setzte ein, von den Deutschen dirigiert. Die Juden wurden in ein Ghetto gepfercht – nie zuvor hatte es hier eins gegeben. Dann kommen die Deportationen. Selma mit Mutter und Stiefvater kommen in ein Zwangsarbeitslager in einem Steinbruch, keiner von ihnen überlebt. Selma stirbt am 16. Dezember 1942 an Typhus. 57 Gedichte überlebten ihren Tod und wurden auf abenteuerlicher Weise gerettet.
Selma Merbaum
(geboren am 5. Februar 1924 in Czernowitz im Königreich Rumänien; gestorben am 16. Dezember 1942 im Zwangsarbeitslager Michailowka, damals Rumänien, heute Ukraine).
Bleistiftskizze
Ein Haarsträhn wie ein feiner Schatten in die Stirn,
darüber seidig weich die dunkle Fülle.
Der Mund ein trutz'ges Zeugnis stolzer Kühle,
betont durch leichten, schwarzen Flaum.
Das helle Braun der Augen mildert kaum.
Die Zähne scheinen stark und weiß nach vorne sich zu drängen
und ganz so störrisch wild die schwarzen Brauen.
Doch wenn die Augen in die Ferne schauen,
dann will ein Zug von Sehnsucht in den Stolz sich mengen.
Darüber wölbt die Stirne sich in leicht gewölbtem Bogen,
die feine Nase setzt sie, aufwärtsstrebend, fort.
Der schlanke Hals ist in die Harmonie mit einbezogen –
ein bißchen Braun, ein bißchen bleich – ein starker Dur-Akkord.
28.9. 1941
Aus: Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund. Hrsg. u. eingeleitet von Jürgen Serke. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1984, S. 79
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