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Veröffentlicht am 1. August 2023 von lyrikzeitung
Noch ein Text von Keith Waldrop aus „Potential Random“, übersetzt von Tim Holland und Barbara Tax. Etwas über Himmelskörper.
Potential Random X
Kein Zählen der
Toten und derer,
die sterben werden.
Kant dachte, die Erde hätte einmal wie Saturn einen Ring gehabt. Dieser hätte aus wässrigen Schwaden bestanden und umkreiste die Erde in einer Schönheit, die von den Bewohnern der Erde betrachtet und bewundert wurde.
Verloren ging damit für die Überlebenden, das heißt für uns, der Anblick dieses Rings in der höheren Atmosphäre, und damit das allerschönste Bild, vom Boden des Paradieses oder von einem jungen Planeten aus gesehen. Was geblieben ist, ist der Regenbogen – eine matte Erinnerung an den verlorenen Glanz.
Im Lauf der Zeit, durch die Bewegung eines Kometen oder aus einem anderen Grund, lösten sich die Wasser des Rings und stürzten zur Erde. In dieser Sintflut ging der größere Teil der sündigen Menschheit unter.
Im Mittelpunkt von jedem
System steht ein brennender
Körper.
Helle Sonne zwischen
Weinstock und Feigenbaum.
Zufällig haben
Sonne und Mond
genau die gleiche Größe.
Himmlische Phänomene – es gibt
so viele Sterne – verschmelzen entlang
meiner Blickachse.
Direkt vor meinen Augen lässt sich
eine Spinne herunter – langsam, total
weit weg, bis runter auf Augenhöhe.
Die Erde dreht sich im
Kranz der Sonne.
Hochebenen im
Staub, und auch
Elefanten, ach.
Hundert Meilen Umbra
über unzähligen
Flächen Tundra.
Ich versuche, mir einen
Reim zu machen, in dem dahinter
nicht hinterrücks ist.
Es deutet auf die
Idee eines Vogels hin.
Monströse Farben
bestimmter Dinge.
Monströse Dinge
unbestimmter Farbe.
Man muss sich entscheiden zwischen
dem Leben
und dem, was das Leben birgt.
Sonnenflecken gefrieren auf der Stelle.
Einen Strom entlang reisen,
die Straße unberechenbar.
Prassern und Henkern
geht es gut in der eroberten
Stadt.
Was wollte ich nur immer
sagen, aber
wie, in diesem Moment.
Potential Random X
No counting the
number of the dead, the number
of those who will die.
Kant thought Earth had at one time, like Saturn, a ring. Composed of watery vapors, it encircled the world in beauty, to be regarded and appreciated by Earth’s inhabitants.
In the course of time, from the action of a comet or other cause, the waters composing that ring were loosed and fell upon Earth and in that deluge the greater part of a sinful mankind perished.
Lost thereby, for the survivors, which is to say, for us: the sight of that ring in the upper air, the most exquisite view from the surface of Paradise or a young planet – our rainbow a faint reminder of the glory lost.
At the center of every
system is a flaming
body.
Bright sun between
grapevine and fig tree.
By coincidence,
sun and moon
are exactly the same size.
Celestial phenomena – there are
so many stars – merge along
my line of sight.
Directly before my eye descends
a spider – slowly, a ways
away, just down to eye-level.
Earth spins in the
sun's corona.
High countries in the
dust, and also
elephants, alas.
A hundred miles of
umbra over un-
counted acres of tundra.
I try to find some
sense in which behind is
not in back of.
It suggests the
idea of a bird.
Monstrous colors on
certain things.
Monstrous things in
uncertain colors.
One has to choose between
life
and what life contains.
Sunspots freeze in place.
Traveling some current, the
road imponderable.
Wastrel and hangman
thrive in the conquered
city.
What have I ever wanted to
say, but
how at this moment.
Aus: keith waldrop: gravitationen 2. ausgewählte gedichte (2000-2009). herausgegeben von david frühauf und jan kuhlbrodt. Frankfurt/Main: gutleut, 2018, S. 24ff
Kategorie: Englisch, USASchlagworte: Barbara Felicitas Tax, Keith Waldrop, Tim Holland
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