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Veröffentlicht am 17. Dezember 2018 von lyrikzeitung
Während die Dichter im christlichen Europa komplizierte Minnesysteme ersinnen mussten, um von Liebe und Sex zu reden, konnten ihre Kollegen in Indien freier zur Sache reden. Nicht ungefährdet zwar auch hier gelegentlich. Die Liebeslieder des kaschmirischen Dichters Bilhana, der im späten elften Jahrhundert schrieb, sind „gestohlen“, weil sie von einer nicht standesgemäßen, also streng verbotenen Liebe eines Dichters zu einer Prinzessin handeln. Doch auch diese Regel nicht ohne Ausnahme. Laut der Legende wurde die unerlaubte Beziehung entdeckt und der Dichter zum Tode verurteilt. Auf dem Weg zur Hinrichtung rezitierte der Dichter seine glühenden Verse, der König hörte sie, ward ergriffen, begnadigte den Frevler und gab ihm die Prinzessin zur Frau. Das Werk heißt „Fünfzig Strophen vom Dieb“ (wiewohl es ihrer hundert sind, es gibt verschiedene Fassungen). Hier die zehnte Strophe:
Auch heute noch,
wo alles zu Ende ist,
erinnere ich mich an das Gesicht meiner Liebsten:
goldhell von Safranpuder,
überglitzert von Schweiß,
ausdrucksleer im Taumel der Leidenschaft.
Es war wie der helle Mond,
aus den Fängen des Dunkeldämons befreit.
Aus: Gestohlene Lust. Von Bilhana. Hrsg. u. aus dem Sanskrit übersetzt von Albertine Trutmann. München: C.H. Beck textura, 2011, S. 15
Eine englische Version:
Even now,
at the end, I remember my love’s face
colored with shining saffron powder,
covered with sweat drops,
with love-weary tremulous eyes ––
a moon disc
released by the demon eclipse.
Aus: The Caurapancasika. Attributed to Bilhana. Phantasies of a Love Thief. Transl. Barbara Stoler Miller. New York und London: Columbia University Press, 1971, S. 21
Kategorie: Indien, Kaschmir, SanskritSchlagworte: Albertine Trutmann, Barbara Stoler Miller, Bilhana
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