Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Am 5. Dezember 1965 schreibt Kulturredakteur Klaus Höpcke im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ bildkräftig über die „Drahtharfe“:
„Was Wunder, dass Biermann in einem (…) Gedicht davon faselt, die Partei der Arbeiterklasse hacke sich die Füße ab. In Wirklichkeit handelt es sich um die tönernen Füße des Skeptizismus des Herrn Biermann. Er zerhackt die Verbindungen mit dem Volke, die Verbindungen mit der Partei. Er greift auch in den Draht seiner Harfe, um gehässige Strophen gegen unseren antifaschistischen Schutzwall und unsere Grenzsoldaten erklingen zu lassen. (…) Ist es etwa Zufall, dass solche Verse ausgerechnet in Westberlin gedruckt werden?
Nein, natürlich nicht. Ich nehme an, in Ostberlin warn keine Kapazitäten frei.
Ein anderer Literaturkritiker war der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Horst Sindermann:
Könnte ein Volk den Absturz vertragen von Goethes ‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut‘ zu Biermanns Reimerei ‚Es war einmal ein Mann, der trat in einen Scheißhaufen‘.
Der Reim war mir gar nicht aufgefallen. Mir fehlte der Klassenstandpunkt. Unser Lehrer erklärte: „Es kann nicht sein, daß ein junger Dichter dichtet: ‚Es war einmal ein Mann, der trat in einen Scheißhaufen‘.“ Okay, das war auch die einzige Zeile, die er kannte. Literaturkritiker Sindermann erklärt die Nationalkultur, auch er bildkräftig, wieder anhand der Zeile mit dem Scheißhaufen:
Bei einem solch geistigen Absturz muss sich eine humanistische Nationalkultur den Hals brechen. Unweigerlich. Was aber ist an Biermann zu verunglimpfen, was er nicht selbst schon längst verunglimpft hätte. Angeblich haben wir seine Seele, die er als die Seele Francois Villon deklariert, auf der Mauer um Westberlin erschossen. Was legt er seine Seele zwischen Sozialismus und Imperialismus? Warum leidet seine Seele so großen Kummer? Nur weil wir drei imperialistische Armeen in Westberlin eingemauert haben, damit sie hier nicht das gleiche machen können, wie in Vietnam?“
Biermann rächte sich ruchlos:
Ach Sindermann, Du blinder Mann / Du richtest nur noch Schaden an / Du liegst nicht schief, Du liegst schon quer / Du machst mich populär
Der Westberliner Verleger Klaus Wagenbach 1993 im Interview:
„Nach der Veröffentlichung von Biermann kam ja der berühmte junge Journalist Höpcke und hat mir dieses unsittliche Angebot gemacht: Wenn Sie Biermann nicht weiterdrucken, können Sie die Lizenzen haben von allen DDR-Autoren die Sie haben wollen. Silvester 1965. Da ich das nicht gemacht habe, kriegte ich nicht nur die Lizenzen nicht, sondern ich kriegte auch ein Einreiseverbot und ein Durchreiseverbot. Das heißt, die Mauer drückte sich wirklich ein dreiviertel Jahr nach Verlagsgründung bei mir so aus, dass ich hier nur noch mit dem Flieger rauskam.“
Zitate aus Deutschlandfunk
Biermann, Wolf: Die Drahtharfe – Balladen, Gedichte, Lieder
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1965
Neueste Kommentare