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Mahmud Darwisch (1942 – 2008) ist sechs Jahre jung, als ihn die Mutter eines Nachts aus dem Schlaf reist und die Familie in den Libanon fliehen muss. Unweit von Akka, in seinem palästinensischen Geburtsdorf al-Barwa, wird nach dem Krieg 1948 das Land dem Erdboden gleich gemacht und durch zwei jüdische Siedlungen ersetzt – Migranten aus Europa.
Zurück in Palästina fühlt sich Darwisch fremd im eigenen Land, dem Verlust des Heimatdorfes zum Trotz beschließt er das Beste aus seiner Situation zu machen. Er verschließt sich dem Hebräischen nicht, setzt die Sprache der Besatzer metaphernleicht in einen festen Rahmen, schreibt ihr die Funktion eines Fensters zu, durch welches seine ganze Generation auf zwei Seiten blickt.
Aus einem dieser Winkel erhebt sich die Thora „ein wichtiges Buch trotz allem“, ja sogar „ein Material, auf das kein Intellektueller verzichten kann“ erklärt er später. Und fügt außerdem hinzu: „Vielleicht überrascht dich das zu wissen, dass ich die griechischen Tragödien zum ersten Mal auf Hebräisch las. Ich kann nur sagen, dass ich in der Schuld des Hebräischen stehe für das Kennenlernen der ausländischen Literatur.“
(…)
In seinem Gedicht „Ein Platz im Zug“ beschreibt Darwisch eindrücklich die Gedanken und Gefühle der Menschen, die sich auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft – nicht selten in fremden Zügen – wiederfinden. Schonungslos ehrlich skizziert er jeden Bahnhof als einen weiteren Ort der Zuflucht und macht deutlich, dass jedes Bahnhofsschild ein weiteres Gefühl der Fremde vermittelt. Die Reise auf der Suche nach dem Nullpunkt, wie Darwisch das Wesen der Flucht treffend benennt, lässt dem Flüchtigen nur seine Jackentaschen, in denen die Heimat auf das Minimalste reduziert, nicht selten aus alten Hausschlüsseln und einem Familienfoto besteht.
„Alle im Zug kehren zu den Ihren zurück, wir aber kehren nirgendwohin zurück“, beklagt der Dichter den bitteren Geschmack des Heimatverlusts. / Melanie Christina Mohr, qantara.de
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