Ja Gott, die Welt ist so

Rainer Kirsch erzählt, wie er sich sein Grab ausgesucht hat. Burga Kalinowski erzählt von ihrer letzten Begegnung mit Rainer Kirsch und veröffentlicht ein Interview mit ihm. Darin sein letztes Gedicht und sein Grabgedicht mit einem Gutachten für die Friedhofsverwaltung oder den Kirchenvorstand, das Volker Braun schrieb, weil es vielleicht Zweifel gab:

Vier Verse nur: und welcher Trost, welche versöhnende Heiterkeit! Auf einen Grabstein gesetzt, wären sie Verweis auf die Kunst des Toten, und er hinterließe hier, der Nachwelt zur Freude, ein gültiges Signum. Die letzte Zeile allein eine schönste Metapher für Schlaf und Tod; das Ganze aber mag dem Vorübergehenden eine Ermutigung sein; ja mir selbst, wenn ich ausgestreckt drunten läge, wäre wohler.

Kirsch im Interview über die 90er und Schere im Kopf:

Schlechte Zeiten für Dichtung.

Ja Gott, die Welt ist so. Ich kann es nicht ändern. Ich fange mal anders an: Nach der Wende wurden wir außer Gefecht gesetzt durch ganz einfache primitive Floskeln. Zum Beispiel hieß ein Vorwurf »Kirsch klagt«. Der Präsident der Industriellenvereinigung durfte ununterbrochen klagen, dass sie zu viel Lohn bezahlen müssen. Aber ein Schriftsteller aus der DDR durfte seine Rechte nicht einfordern. Oder: »Sie hatten ja die Schere im Kopf«. Das heißt, es wurde behauptet, man hätte sich fortgesetzt selbst zensiert. Man hat sich eben nicht zensiert und hat es mit Gelassenheit ertragen, wenn etwas nicht gedruckt wurde. Nicht mal die Verlage, bei mir auch nicht die Zeitungen, trauten sich, in den Texten rumzuklieren. Und dann kam die Wende und der freie Westen und eine Schweizer Herausgeberin dichtete in meinen Übertragungen herum. Und als ich sie anrief, da sagte sie: Ja, das ist doch völlig normal. Ich untersagte den Abdruck. Punkt. So hatte ich es in der DDR gemacht. Dann wurde man eben nicht gedruckt. Es gab Weicheier – würde man heute sagen – die haben umgeschrieben. Na gut, es ist ihnen letztlich nicht bekommen.

Sie haben das nicht zugelassen?

Nein!

2 Comments on “Ja Gott, die Welt ist so

  1. Man darf in diesem Zusammenhang vielleicht auch an die Herausgeber des Almanach ‚Common Sense‘ und der Edition Augenweide erinnern (u.a. Ulrich Tarlatt), die in den 80er Jahren als ostdeutsche Variante der Samizdat-Kunst angefangen hatten und bis heute wunderschöne Bücher produzieren – wenn auch der Anspruch der Systemkritik sich mit dem Ende der DDR deutlich verschoben haben mag.

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  2. Ah, den Verdacht hatte ich schon im Studium, dass diese Idee von der ostdeutschen „Schere im Kopf“ Bullshit von – West- wie Ost- – Germanisten ist. Wäre nicht der einzige in diesem Kontext. War wohl politisch opportun in den 1990er und „Nuller“ Jahren.

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