Virginia Woolf warnt vor den Dichtern von heute

Sehr gern bringt Virginia Woolf das Hohe und das Alltägliche oder Lebenspraktische bildlich zusammen. Trotzdem ist es verwunderlich, dass in Sachen Lyrik bei ihr, der Verfasserin avantgardistischer Romane (siehe die Besprechung der Neuübersetzung ihrer Romanbiografie „Orlando“ auf dieser Seite), eine konservative Ästhetik durchzuschimmern scheint, eine Position, die antike und klassische Maximen wie Schönheit und innere Geschlossenheit einfordert. Mit dem Kunstgriff, in Gestalt des hustenden Mr. Peabody einen so aufgeblasenen wie beschränkten Philister zu verspotten, kann sie selbst scheinbar konservativ sein und sich zugleich von dem lächerlichen Reaktionär absetzen.

Diese zeitgenössischen Gedichte hätten weder „Ohren noch Augen, weder Fußsohlen noch Handflächen“, so Woolf, sie entsprängen einem „buchgefütterten Gehirn“. Und während die Dichter vormals die Liebe oder den Hass auf einen Tyrannen besungen hätten – Themen, die jedermann zugänglich sind –, zeigten die Gedichte der Gegenwart einen extrem gesteigerten Subjektivismus. Der Dichter heute sitze allein in seinem Zimmer, schreibt sie, bei heruntergelassenen Jalousien. Doch sei es nicht die Aufgabe des Dichters, sich narzisstisch zu bespiegeln, sondern aus dem Fenster zu schauen und über andere Menschen zu schreiben. Und weiter: Er solle unser Leben in Dichtung verwandeln und darin die Tragödie und die Komödie aufscheinen lassen. Und die geheime Affinität aufspüren, die zwischen Disparatem besteht. Der Dichter möge aus dem Fenster schauen, bis ein Ding ins andere zerfließt, bis aus den separaten Fragmenten ein Ganzes entstanden ist, bis die Taxis mit den Osterglocken tanzen. / Eva Schäfers, Süddeutsche Zeitung 4.8.

Virginia Woolf: Brief an einen jungen Dichter. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Steidl Verlag, Göttingen 2015. 32 Seiten, 8 Euro.

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