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Auszüge aus einem Essay von Felix Philipp Ingold (in: Volltext 1/2015 S. 22ff)
Reb Tal: „Alle Buchstaben bilden die Abwesenheit.“
(Edmond Jabès)
Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772–1810) – auch „der Bratzlawer“, „der Breslover“ genannt – ist durch die wortmächtige Vermittlung Martin Bubers als Verfasser ebenso erbaulicher wie abgründiger „Geschichten“ weithin bekannt, sogar populär geworden. Seit deren deutschsprachiger Erstausgabe von 1906 sind die Texte vielfach nachgedruckt und aus dem Deutschen auch in andere Sprachen übersetzt worden. Mit einer erweiterten, philologisch aufgebesserten, stilistisch aber glanzlosen Neufassung der Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw hat Michael Brocke in den 1980er-Jahren das Interesse an dem großen chassidischen Gottesmann noch einmal nachhaltig reaktiviert. 1)
Weder bei Brocke noch bei Buber ist allerdings zu erfahren, dass Nachman nicht nur ein einfallsreicher und wirkungsstarker Geschichtenerzähler war, sondern auch – in viel größerem Umfang und viel höherer Qualität – ein Lehrmeister des Chassidismus und der neuzeitlichen Kabbala. Selbst Gershom Scholem, der dem chassidischen Judentum und der kabbalistischen Mystik mehrere Buchpublikationen gewidmet hat, geht an keiner Stelle auf Rabbi Nachmans Glaubens- und Lebenslehre ein, sondern begnügt sich damit, ihn, der als Chassid wie als Kabbalist eine herausragende (wiewohl umstrittene) Autorität war, in seinem umfangreichen Werk nur gerade zwei-, dreimal beiläufig zu erwähnen. 2)
Solche Missachtung (oder Verkennung) ist durchaus bemerkenswert, wenn auch kaum begreiflich, steht doch den rund 200 Druckseiten narrativer Prosa, die man von Nachman gemeinhin kennt, ein Konvolut von didaktischen, homiletischen, hermeneutischen, polemischen und aphoristischen Schriften gegenüber, das Tausende von Manuskript- beziehungsweise Druckseiten umfasst. Unter anderm wurde aus diesem Fundus das Opus magnum des Bratzlawers kompiliert, das 1808 und – postum – 1811 in zwei Teilen unter dem Titel Likkutei Moharan (Gesammelte Lehrmeinungen des Rabbi Nachman) erschien und das neuerdings als kommentierte hebräischenglische Parallelausgabe in fünfzehn Textbänden greifbar ist. 3) Eine deutsche Übersetzung der „Lehrmeinungen“ wie auch der übrigen diskursiven Schriften Nachmans liegt bisher nicht vor.
(…)
Nachmans Wunsch war es, das Denken von vorgegebener Begrifflichkeit, von logischer Schlüssigkeit, von objektiver Verbindlichkeit auf Subjektivität hin zu befreien, statt es – wie unter orthodoxen Juden oder aufgeklärten Christen üblich – methodologisch und institutionell zu domestizieren. Zum freien, intuitiven, nomadisch sich auslebenden Denken gehörten für ihn naturgemäß eben auch Widersprüche, Wiederholungen, Leerläufe, absurde Verschlaufungen, spontane Einfälle, und wenn man ihm Trivialität vorwarf, konnte er dies leicht mit dem Hinweis parieren, triviale Gedanken seien allemal freier und wahrhaftiger als fixe Ideen. Für noch freier und noch wahrhaftiger als irgendwelche in Worte gefasste Gedanken hielt er allerdings das Lachen und das Tanzen. Dass ein hochkarätiger Schriftgelehrter wie Gershom Scholem damit nicht eben viel anfangen konnte, ist leicht nachvollziehbar: Der Bratzlawer selbst hat die Gelehrsamkeit – auch seine eigene – bei der Wahrheitssuche als hinderlich empfunden und eben deshalb dafür plädiert, allem Vorwissen und Erkennenwollen zu entsagen.
Nachman selbst hat seine Autorschaft als problematisch, sein Werk als unzureichend, mitunter auch als frevelhaft und schädlich empfunden. Wichtige Teile daraus (angeblich die wichtigsten) hat er, geplagt von Selbstzweifeln und Wirkungsangst, dem Feuer übergeben – ein Vernichtungsakt, der den Text aufwerten, ihn in den Bereich des Hermetischen, wenn nicht gar des Heiligen einführen sollte: Niemand durfte ihn zu lesen bekommen, nur als ungelesener, als unlesbarer konnte er, meinte Rabbi Nachman, seinen vollen Sinn entfalten – indem er als Geheimnis bestehen blieb.
Was bei der talmudistischen Exegese schon lange praktiziert worden war, nämlich das fortschreitende, nicht so sehr auf den Text eingehende als vielmehr von ihm ausgehende Denken (ein Weiterdenken „über den Vers hinaus“ 6), das hat Rabbi Nachman mit rücksichtslosem Eigensinn ins Extrem getrieben, bis zu einem Punkt, an dem Wahn und Sinn tatsächlich kaum noch auseinander zu halten sind. Indem er den Akt des Schreibens – des Nachschreibens, Umschreibens, Überschreibens – an einen Mitautor delegierte, wertete er für sich selbst den Akt des Lesens zu einem produktiven Vorgang auf, der nicht mehr primär dem Verstehen und Bewahren des Gelesenen verpflichtet sein sollte, sondern der innovativen Sinnproduktion – ein Lektüreverständnis, das Fehldeutungen geradezu provoziert, um daraus neue Lesarten zu gewinnen.
Die so verstandene und so angewandte Lektüre ist dementsprechend eher als ein Gegenlesen denn ein Mit- oder Nachlesen aufzufassen, und „schöpferisch“ kann sie gerade dann werden, wenn sie auch als „Verlesung“, als Falschlesung ihre Berechtigung bekommt. 7) Der französische Talmudist Marc-Alain Ouaknin schlägt dafür die treffende wortspielerische Formulierung lire aux éclats vor, also „schallend lesen“ (mit impliziter Bezugnahme auf rire aux éclats, d. h. „schallend lachen“). 8) Da mit „éclats“ aber auch Funken oder Scherben gemeint sein können (denen in der Kabbala große symbolische Bedeutung zukommt), bedeutet der Ausdruck, als Homophon begriffen, auch so viel wie „in Trümmer lesen“. Beides – das laute Lesen wie das dekonstruktive Lesen – gehört zu Rabbi Nachmans Lektürekonzept, das den Schrifttext – ob als Feuerwerk oder als Trümmerwerk – überhaupt erst ermöglicht, ihn produktiv und innovativ werden lässt. Darin verbirgt sich die ungewöhnliche, deshalb auch unbequeme Idee – oder Vision –, wonach Autorschaft nicht Ordnung, sondern Chaos schafft, dass sie Funken und Scherben statt eines kohärenten Ganzen erzeugt, um auf diese (einzig mögliche) Weise den späteren Leser in die Pflicht zu nehmen, ihm aber auch die Möglichkeit zu geben, aus all den unverbundenen Fragmenten eine eigene, subjektiv bedingte Ordnung herzustellen und damit selbst zum Autor zu werden – zum Urheber eines Werks, das kraft kreativer Lektüre entsteht und in jedem Fall, ungeachtet seiner Qualität, als originell und singulär gelten darf. Eben diese Extremposition vertritt, zweihundert Jahre danach, der einflussreiche Großkritiker Harold Bloom, wenn er kurz und bündig festhält, literarisches Schreiben bestehe darin, Vorläufertexte – ob von Goethe oder Pound, von Homer oder Wallace Stevens – zu lesen, genauer: sie fehlzulesen (misreading), um sie als Überschreibung und Fortschreibung erneut produktiv zu machen. 9)
Originell können demzufolge bloß der Akt und die Art der Lektüre von Fremdtexten sein, nicht aber die angebliche „Schöpfung“ eines angeblichen „Originaltextes“. Was der solcherart entmächtigte Autor beim Lesen und durch das Lesen von Fremdtexten zu unverbundenen (oder unsinnig verbundenen) „Funken“ und „Scherben“ fragmentiert, das bietet sich dem nachkommenden Leser zu eigenmächtiger Rekonstruktion an, so dass dieser Leser zum Komplizen jenes Autors und zum Vollender eines Werks von eigener Ordnung und eigenem Anspruch wird. Ein Gleiches ließe sich in generellem Hinblick auf die Sprache sagen, die als solche auch bloß einen chaotischen Worthaufen bildet, der erst durch seine regelhafte Ausrichtung und praktische Erprobung zu sinnvollem Einsatz kommen kann. Was gemeinhin als „Originaltext“ gilt, ist demnach lediglich eine wie immer geartete, stets aber veränderte und ergänzte „Kopie“ eines bereits gelesenen Vor-Textes.
(…)
Wenn Rabbi Nachman, talmudistischer Tradition folgend, die in weitestem Verständnis „literarische“ Autorschaft an der kreativen Lektüre festmacht und das „Schöpfertum“ mit produktiv verfremdender Nachbereitung gleichsetzt, nimmt er damit um gut hundert Jahre vorweg, was die Poetik der klassischen Moderne, besonders aber die europäische Avantgarde der 1910er-, 1920er- Jahre zum Programm machen wird: Traditionsbruch als innovatives Verfahren, Schmähung anerkannter Autoritäten, Ablehnung oder Parodierung des bestehenden Kanons, Schwächung originaler Autorschaft bei gleichzeitiger Aufwertung des Sprachmaterials und seiner Eigendynamik, seiner „Selbstorganisation“ – all dies hatte sich auch Rabbi Nachman mit staunenswerter Radikalität und Konsequenz zur Aufgabe gemacht. Doch ihm ging es, wohlverstanden, nicht um Literatur als Kunst, sein Interesse galt allein der religiösen Rede, deren vielfältige Ausdrucksformen – von der Legende über den Lehrsatz bis zum Gebet – er gleichermaßen beherrschte und die er zusätzlich ergänzte durch bald kryptische, bald komische oder auch absurde Aussagen, deren Sinn darin bestehen sollte, neuen Sinn beziehungsweise Widersinn hervorzurufen. Nachmans bald schwärmerische, bald nörglerische Rhetorik war durchweg von einer fundamentalen Sprachskepsis konditioniert, von der schlichten Einsicht, dass die Sprache der realen Welt stets nachgeordnet ist, sie lediglich benennen, nicht aber hervorbringen kann.
(…)
Nachmans lurianische Vorstellung eines hinter seine und für seine Schöpfung sich zurückziehenden Gottes wie auch seine Funktionsbestimmung des Schreibens als kreative Lektüre weisen voraus auf den modernen Topos vom „Verschwinden“ oder vom „Tod“ des Autors, der in den antiautoritären 1968er-Jahren die internationale Literaturdebatte dominierte und schließlich in der Toterklärung der künstlerischen Literatur schlechthin ihren Höhepunkt fand. Heute, da jene Forderungen weitgehend vergessen sind und literarische Autorschaft erneut – bei Buchpremieren, Preisverleihungen, Lese- und Messeauftritten – vehement personalisiert wird, sollte man sich vielleicht einmal wieder daran erinnern, dass jeder Schreibende, ob er will oder nicht, an bereits Geschriebenem mit- und weiterschreibt, und dies in einem Ausmaß, dass man mit Edmond Jabès prosaisch konstatieren darf: Schreiben heißt geschrieben werden.
Anmerkungen
1 Die Geschichten des Rabbi Nachman, ihm nacherzählt von Martin Buber, Leipzig 1906; Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, aus dem Jiddischen und Hebräischen übersetzt und kommentiert von Michael Brocke, München 1985. Beide Ausgaben enthalten biografische Aufsätze zu Rabbi Nachman sowie Erläuterungen zu seinen Texten; Buber ergänzt die Geschichten durch ausgewählte „Worte des Rabbi Nachman“ aus andern Schriften und durch allgemeine Hinweise auf die jüdische Mystik.
2 Siehe u. a. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, wo Rabbi Nachman zwar als „tiefer Kopf“ (S. 380) genannt, aber nicht weiter gewürdigt wird. Man darf vermuten, dass der Bratzlawer wegen seiner inkohärenten Lehrmeinungen, seiner radikalen Sprach- und Wissenschaftsskepsis und generell wegen seines chassidischen Extremismus bei Scholem kein adäquates Verständnis finden konnte.
3 Likutey Moharan („Collected Teachings of Our Teacher, Rabbi Nachman“), translated to English and annotated by Rabbis Chaim Kramer and Moshe Mykoff, I-XV, Jerusalem/New York 1984-2014.
6 Vgl. dazu u. a. Emmanuel Lévinas, L’Au-delà du verset, Paris 1982.
7 In talmudistischem Verständnis ist Tradition, als das zu Lesende, eng an Innovation und Offenbarung gebunden: Lektüre als kreativer Prozess. Vom Exegeten wird „Kühnheit vor dem Text“ gefordert, er soll verfestigte Traditionen (Lesarten) unterlaufen und sprengen, darf sich nicht zufrieden geben mit dem, was er liest. Der vorgegebene Text kann und soll nicht eindeutig sein – nur in seiner Mehrstimmigkeit und Rätselhaftigkeit wird er sich als Lehre behaupten. Siehe dazu den aufschlussreichen Versuch über die „unendliche“ Bibellektüre jüdischer Kommentatoren von David Banon, La lecture infinie, Paris 1987.
8 Marc-Alain Ouaknin, Lire aux éclats, Paris 1989.
9 Harold Bloom, Kabbalah and Criticism, New York 1975, S. 102.
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