72. Letzte Ausfahrt Prenzlauer Berg

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Letzte Ausfahrt Prenzlauer Berg
kurz bevor man über die Schönhauser Allee nach Pankow kommt, gibt es eine Abzweigung nach links, in Richtung Skandinavisches Viertel. dort, am äußersten Rand, liegt das letzte Haus im Prenzlauer Berg Richtung West. dort wohnt einer der letzten Dichter des Prenzlauer Bergs. als er und seine letzten Freunde des Prenzlauer Bergs des Prenzlauer Bergs Literaturszene retten wollten, mussten sie irgendwann ausweichen in den Wedding, denn es gibt keine Literaturszene Prenzlauer Berg mehr, nur noch Reste und Relikte.
dieser neue Ort war unweit des letzten Hauses am Rand, kurz hinter der Schwedter Brücke. man musste nur der Abzweigung der Schönhauser Allee an diesem Randhaus vorbei folgen über die Autobrücke in den Wedding, einmal rechts, einmal links. und doch, so nahe, eine andere Welt. in der wiederum kleine Enklaven wie das Studio 8 vielleicht besser widerspiegeln als Reste und Relikte, was einmal der Prenzlauer Berg war, wenn auch in stark verkleinerter Form. die kurzen Sommer des Prenzlberg-Kults hatten, was die Lyrik angeht, immerhin kookbooks und in der Folge eine ganze Generation von Lyrikern hervorgebracht.
mit Monika Rinck und Ann Cotten luden nun zwei ihrer inzwischen prominentesten Repräsentantinnen zu einem Abend, an dem fast alles noch einmal wie früher war, nur eben auch in verkleinerter Form, unter dem unsichtbaren Banner des Abgesangs und verdrängt in den Wedding.
wie viele ähnlicher Abende hat man, in wechselnden Konstellationen, nicht verbracht? ob Lemma, Lyrikspartakiade, Rotten-Kinck-Scho, LSD, Chaussee der Enthusiasten, wie hießen nicht all die Literaturabende mit originellen Zutaten gefüllt?
und wäre kookbooks überhaupt ohne solche literarischen Zusammenkünfte denkbar? ist der „Gegner“ und die Szene um Bert Papenfuß ohne z.B. den „Torpedokäfer“ oder das „Burger“ denkbar? wäre, um die Frage einmal auszuweiten, der „Prokurist“ und Oswald Egger ohne das Festival Lana und die Zusammenkünfte der Literaten in Wien damals denkbar? das alles sind überflüssige Fragen, die einen aber anwehen, dort im Wedding im Studio 8.
hinweg ihr schwankenden Gestalten!
zurück zur Abteilung Rotten-Kinck-Schow ohne Scho. das nackte Ganze des Absurden.im Publikum saßen, eingewickelt in Turbane, der Reihe nach: Simone Kornappel, ein „Gast“ (auch so etwas kam vor), die große Unbekannte: der Jüngling, den einige anwesende Männer und Frauen als rätselhaftes Vexierbild auf die große Projektionsfläche des Begehrens aufgezeichnet hatten, sodann die Übersetzerin Theresia Prammer, die Lyrikerin Birgit Kreipe, parlandopark- und ex-lauter-niemand-Adrijana Bohocki, der Sänger Herr Nilsons und Literat Jan Böttcher, Steffen Popp, weiter rechts gegenüber der Herausgeber des Merveverlags Tom mit seinem kleinen runden Jerry von der Volksbühne, wo dieser panische Philosophieabende veranstaltet. eine illustre Runde also.
es hatte schon begonnen, man steckte seinen Kopf direkt in den Wust aus genialisch Zerzaustem, einen Wirrknäuel mit japanischen Tuschezeichnungen, Abhandlungen über die Psychologie der sieben Eingeweide und einem überdimensionalen Kopf-Tablett. Monika Rinck bastelte eifrig, Ann arbeitete noch im blauen Prunkturban an Texten über rosafarbene Kleider, Hoftore in Aachen und plötzlich tappen bzw sitzen wir alle im Dunkel einer imaginären Wüste. jemand hat das Licht ausgeschaltet. Gehört das nun dazu, auch diese klassische Frage bleibt nicht aus. dafür das Licht.
ich verschwinde kurz in das Cafe nebenan, wo Christian Filips und Rick Reuther sitzen und das Coming-Out-Drama 2.0 besprechen.
back to the roots! doch ab hier sind die Aufzeichnungen aus dem Labor des Abwegigen zunehmend unleserlich: überqualifizierte Mädchen (…) fällt ein toter Krund (Hund? Rund? Schrund?) aus Mazedonien ein aus Augen staben? … hier steht noch: sprachlich nicht modifiziert, klar das passt. passt nicht, denn Perlen auflesen ist gefragt! ein Praxisbuch von Gurdjew soll zu inneren Verwüstungen führen. Mechthild von Magdeburg hat einen Auftritt!die Freien niederringen. Simone flüstert: X.X. behaupte, Ann sei Marxistin, ABER DAS DÜRFE ICH AUF KEINEN FALL irgendwo schreiben. das Skandalöse daran ist mir nicht klar, aber ich verschlüssele eilfertig den Vornamensbruder Kyrills in Gottes Namen Amen zu X.X.
schließlich singt man zu dumpfen Keyboardrythmen „Gänse, die auf nichts mehr warten wollen, hast du noch meinen Pulli?“Fata Morgana, Luftspiegelung, wo befinde ich mich eigentlich? ist das noch der Prenzlauer Berg, ist das noch die Rotten-Kinck-Scho, ein Lemmaabend, oder schon der Wedding und der Anfang vom Ende, ausgerechnet dort, wo alles anfing (unweit nämlich, in Moabit, saßen Monika und ich einst in Meiers Fleischsalon, unbeschriebene Blättchen, und lasen Fremdes vor)? Welwitschien, so kam es zur Wüste, ruft wie ein Heuraka Ann in die Runde! Ja, wie kam es zur Wüste. Es ist, als könnten wir uns kaum noch erinnern, selbst jetzt, wo noch einmal der große alte Mythos des Prenzlauer Berg, ausrangiert, an uns vorüberzieht wie etwas nie Eingelöstes. dabei hat es ihn gegeben, ich kann es bezeugen!
kurzer Zukunfstflash: wenig später schloss das Alt-Berlin und das Soupanova.
zum Schluss des Abends noch dies wundervolle Zitat: „der kurze Aufenthalt war blind“
Danke, ihr ward großartig!

lk_neu_tansparentes

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