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Als der russische Lyriker Alexander Blok im ersten Kriegsmonat 1914 eingezogen wurde – es drohte die sofortige Verschickung an die Front –, empörte sich ein Dichterkollege: «Das ist doch, als ob man Nachtigallen brät.» Die Berufung auf die emblematischen Vögel der Poesie war unter Russlands Schriftstellern offenbar verbreitet. Der Futurist Wladimir Chlebnikow wandte sich in einem wunderbar selbstironischen Gedicht direkt an die ätherischen «Schwäne, Drosseln und Kraniche», um gegen seine Einberufung zu protestieren: «Wie das? Auch ich, Inbegriff der Zärtlichkeit, / Ich, beleidigt ob der Menschen, wie sie sind, / Ich, von den besten Morgenröten Russlands genährt, / Ich, in die Windeln der besten Vogelpfiffe gewickelt, / Ihr seid meine Zeugen: Schwäne, Drosseln und Kraniche! / Der ich meine Tage im Schlaf fristete, / Auch ich soll ein Gewehr nehmen (ein grosses, dummes, / Schwerer als eine Handschrift)»?
Blok und Chlebnikow waren keineswegs Pazifisten. Beide hatten vor 1914 eingestimmt in den grossen, misstönenden Chor europäischer Intellektueller, die dem Kontinent einen reinigenden Krieg wünschten: Blok mit apokalyptischen Brandreden, Chlebnikow mit Beschwörungen des panslawischen Zusammenhalts. Der wirkliche Krieg belehrte sie eines Besseren. «Das Herz, erhoben einst zu frohlocken, / Ist uns von Leere so verhangen», schrieb Blok nach der Schlacht von Grodek im September 1914. Seine Armee hatte gesiegt, nach Jubel war ihm angesichts der gewaltigen Verluste aber nicht zumute. Auf der Gegenseite erlitt der österreichische Sanitätssoldat Georg Trakl, konfrontiert mit der unmöglichen Aufgabe, annähernd hundert Schwerverletzte zu versorgen, einen Nervenzusammenbruch. / Manfred Koch, NZZ
Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014. 458 S., Fr. 41.90.
Ein „Schnellschuss“:
verrücken
anfangs molliges
getöse auch 1914
im streuecho grauend
über schlamm und eingeweiden
wirbelloses
vogelgekreisch bis tief
in die blankweißen knöchelchen
die einsicht blutiger hände
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