65. „Religion ist das Problem“

Über Religion

Ich kann unter keinen Umständen eine Revolution unterstützen, die in einer Moschee beginnt oder endet.

(…) Religion als führende Institution bedeutet immer Tyrannei. Als in Ägypten schon wenige Wochen nach dem Sturz Mubaraks die Fundamentalisten das Ruder an sich rissen, war mit einem Schlag klar, dass es keine echten Reformen mehr geben würde. Gruppen wie die Muslimbrüder wollten nicht die Gesellschaft ändern, sie wollten immer nur die bestehenden Machtverhältnisse ändern. Dies ist der Grund, weshalb es in der arabischen Welt schon seit Jahrhunderten kein Vorankommen gibt. Und so lange eine Revolution von religiösem Eifer befeuert wird, wird dies auch so bleiben. Religion ist nicht nur undemokratisch – sie ist auch essentiell antirevolutionär.

(…) In meinen Augen ist die Religion dort kein Schlüssel zur Lösung eines Problems – für mich ist sie das Problem.

(…) Eine Militärdiktatur kontrolliert nur deinen Körper und deine Gedanken. Die Diktatur der Religion erfasst dagegen auch deine Seele, sie nimmt Besitz von dir – das ist das Gefährlichste.

(…) Versuchen Sie heute in Tunis ein Buch von Shakespeare in die Hände zu bekommen, Sie werden es kaum schaffen! Alles, was Shakespeare geschrieben hat, steht mittlerweile auf dem Index. So viel zur arabischen Moderne, die damals alle kommen sahen.

Über Dichtung

Mein Gefühl ist, dass der 11. September 2001 das Verlangen nach Lyrik gesteigert hat. Zugleich hat dieses Datum aber auch den Fokus verengt. Die meisten Gedichte und Romane beschäftigen sich seither mit Kriegen.

(…) Die Dichter zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert waren in vielerlei Hinsicht liberaler als manche Dichter es heute sind. Es lag daran, dass sie in der Mehrzahl Sufisten waren und sich als solche viel stärker der arabischen Mystik zuwandten. Sie suchten die Wahrheit nicht in den Sätzen, sondern dazwischen, was unendliche Interpretationen zuließ – also eine metaphorische Qualität, die durch die heutige Texttreue ausgeschlossen wird.

(…) Die Sufisten haben das Verhältnis der Menschen zu Gott als dynamisch und wandelbar aufgefasst. Was wir heute in der arabischen Welt erleben – dass das gesprochene Wort als Verbrechen gilt – hat es im Laufe der Geschichte nie gegeben. Es mag seltsam klingen, aber die Dichter von damals hatten häufig ein freiheitlicheres, moderneres Weltbild.

/ Der arabische Dichter Adonis im Gespräch mit Claas Relotius, Die Welt

8 Comments on “65. „Religion ist das Problem“

  1. noch ein zitat aus dem artikel:

    Zum Gespräch bestellt der 83-jährige zwei Gläser weißen Rum auf Eis. „Rum hält jung und den Geist lebendig“, sagt er. Wer Adonis erlebt, wer ihm in seine wachen Augen blickt, würde nicht widersprechen.

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    • aber die aussage „religion ist das problem“ reagiert nur auf die andersgerichtete „religion ist die lösung“ bzw „der islam ist die lösung“. mehr nicht. (die eigenartigerweise in dem gespräch hauptsächlich „dem westen“ zugerechnet wird). adonis übrigens kritisiert mit dieser aussage ja auch sich selbst, denn es gab von ihm durchaus sympathien für die „islamische revolution“ chomeinis

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  2. vorab: ich halte adonis für einen großen dichter und habe seine gedichte mit genuss gelesen, dennoch kann ich seine in diesem interview text geäßerten positionen nur mit einem misstrauen begegnen, jenem misstrauen, dass ich auch religionen gegenüber hege. auch hier (also bei adonis) ist festzustellen wie sich der gegner (oder vermeintliche gegner) im eigenen kopf spiegelt. einige formulierungen hie sind doch sehr dogmatisch.

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