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STANDARD: Tatsache ist, dass Lyrik geachtet, aber wenig gelesen wird.
Krüger: Tatsache ist auch, dass jeder von uns – also auch der größte Verächter von Poesie – ununterbrochen mit den Formen von Dichtung umgeht. Nämlich im Lied, im Song, jeder Rapper ist ein Dichter, jedes Kind lernt Lieder auswendig. Und da jeder Englisch kann, versteht man sogar, was Bob Dylan singt. Was aber verlorengegangen ist, ist das Verhältnis des Einzelnen zu einem einzelnen Text. Das Massengefühl, mit mehreren Tausend Menschen in einer Arena zu sitzen und einem Sänger zuzuhören, kennt jeder. Aber zu Hause zu sitzen und ein Gedicht von Novalis, vom späten Goethe oder von Hölderlin zu lesen ist immer mit einem Müssen verbunden. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich denke aber, dass vielleicht eines Tages, wenn der Verdruss an der öffentlichen Rede so groß geworden ist, man es einfach nicht mehr aushalten wird.
Als ich den Wahlkampf in Deutschland verfolgt habe, musste ich oft einfach aufstehen und schreien. Ich bin schreiend durch die Wohnung gelaufen und habe mir gedacht: Das darf nicht sein! Es ist einfach unmenschlich, einen zu zwingen, sich diesen Unsinn anzuhören! Mit dem Dichter Joseph Brodsky bin ich folgender Meinung: Unsere Zivilisation sähe anders aus, wenn in den Parlamenten und in den Vorstandsetagen vor jeder Sitzung, bei denen es um wichtige Entscheidungen geht, ein Gedicht vorgelesen wird. Ich bin mir sicher, jeder würde sich anstrengen, anders zu sprechen. Ja, die Welt sähe anders aus.
/ Andreas Puff-Trojan, DER STANDARD, 7./8.12.
Michael Krüger, „Umstellung der Zeit. Gedichte“. € 19,50 / 122 Seiten. Diogenes, Zürich 2013
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