38. Brasiliens Lyrik

Autor Uhly über brasilianische Dichtung als Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse

Steven Uhly im Gespräch mit Liane von Billerbeck, Deutschlandradio

Brasilien präsentiert sich als Gastland der weltweit größten Buchmesse mit seiner facettenreichen Literatur. Sehr prägend für die brasilianische Lyrik war die Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1984, wie der Schriftsteller Steven Uhly erklärt.

von Billerbeck: Brasilien, das ist ja ein sehr buntes Land. Brasilianer können Wurzeln auf drei Kontinenten haben: in Europa, in Afrika und in der indigenen Kultur Südamerikas. Was bitte ist denn dann brasilianische Literatur?

Uhly: Da darf man nicht die Brasilianer japanischer Herkunft vergessen. Es gibt in São Paulo allein, ich glaube, inzwischen 700.000 oder 800.000 brasilianische Japaner oder japanische Brasilianer. Historisch gesehen haben Sie natürlich recht: Die Portugiesen haben das Land erobert, haben erst mal die Indios unterjocht oder eben auch massakriert, und dann brauchten sie für die vielen schönen Rohstoffe robuste Arbeiter, die haben sie sich aus Afrika geholt. Um dieses Dreieck dreht sich natürlich sehr vieles, es ist klar.

Was die Lyrik ist in dem Zusammenhang: Die Lyrik ist meines Erachtens, na ja, so ein Laboratorium, in dem die Dichter versuchen, das zu integrieren, was sie, wenn sie vorurteilslos hinschauen, was sie vorfinden in der brasilianischen Wirklichkeit.

von Billerbeck: Wie machen sie das?

Uhly: Das war eigentlich Oswald de Andrade, ein Dichter des Modernismus, also einer Kulturbewegung, die aus Europa kam, der 1930 gesagt hat: Wir müssen einfach zum Kannibalismus zurückkehren – und damit meinte er natürlich nicht den historischen Kannibalismus, sondern er meinte so eine Art kulturellen Kannibalismus -, nämlich einfach alles in uns reinstopfen, worüber wir stolpern, und halt gucken, was dabei rauskommt. Das war in gewisser Weise eine Gegenbewegung zur offiziellen Literatur und auch Haltung der Regierung, die wesentlich von Gilberto Freyre vorgegeben wurde. (…)

Uhly: Die Literatur war eigentlich – und das ist halt das ganz Tolle für mich als Dichter und Schriftsteller selber -, die Lyrik hat eine Qualität erreicht, die mich, als ich damals nach Brasilien kam, vollkommen überrascht hat. Was mich auch vor allem sehr überrascht hat, war, dass die Qualität der Liedtexte der Qualität der rein geschriebenen Dichtung in nichts nachstand. Also, es befand sich beides auf einem sehr, sehr hohen Niveau, wie ich das von Europa gar nicht kannte.

Das kam tatsächlich durch ein Paar, ein Komponisten-Musiker-Paar, das sehr berühmt geworden ist, durch Lieder wie „Girl from Ipanema“, nämlich (…), ein Dichter des zweiten brasilianischen Modernismus, und Tom Jobim, der halt als Komponist und als Musiker sich damals einen Namen gemacht hat, und die haben sich dann zusammengetan in den 50er-Jahren, Anfang der 50er-Jahre, und haben gemeinsam die Bossa Nova erfunden. (…)

Am Anfang der 60er-Jahre gab es eigentlich vor allem die damals bereits schon als bürgerlich verschriene Bossa Nova, dann gab es die linke, die engagierte Literatur, und dann gab es … Anfang der 60er-Jahre entstand die konkrete Poesie in São Paulo, und es regte sich in Bahia halt zum ersten Mal die afrobrasilianische Kultur. Und während die Linke sich eigentlich an der Rechten aufrieb, haben sich diese beiden anderen Strömungen erst mal relativ ungehemmt entwickeln können, weil sie eben nicht in diesen Antagonismus verfielen.

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