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Warum ist Eckard Sinzig nicht halb so berühmt wie andere Dichter, trotz viermal größerem Wortschatz und Themenradius, wirklichem Lebensdrama sowie Wunderkindstatus: Rowohlt brachte vor über 25 Jahren den Roman eines 25jährigen:Idyllmalerei auf Monddistanz, ein Faustschlag in die übliche bläßliche Landschaft; vier weitere Romane kamen, ja Bestseller: Die Jungfrauenhatz, deren weitere Ausbreitung Sinzigs darin bloßgestellter Vater juristisch stoppte, woraufhin Sinzig junior als der inzwischen ebenfalls vergessene Dirk Zaesing weiterschrieb.
Nach seinem vierten, völlig ausgeflippten Roman Die Unterseiten der Oberschenkel, Meta-Pornographie für Erleuchtungsmonster, platzte der Wortspei-Berserker vor Literaturverachtung, versank tief im Buch des Lebens, bereiste 166 Länder, lebte jahrelang in Maharadschakreisen, arbeitete als Manager in Kikkomanistan und publiziert, jenseits seines literarischen Karriereknicks, auf der Basis seiner fast unauftreibbar vergriffenen Romane, urplötzlich einen Lyrikband, voll von Jumbotassen, Fruchtzwergen, Disketten-Rollboxen, Kropfträgern, Euterbeißern, voll von Butterspargel und Seidenmalerei, hinter denen Strengstoff und Inferno wühlt, voll von Dickdärmen, die als Paste am Schornstein kleben. Die Gedichte heißen Das Elend der Rendezvouz, oder:Die kalte Qualle im Hochzeitsbett. Oder auch Letzter Ausweg Ruhrgebiet, Kunstgriff bei drohender Vertierung, und spucken seltsame Zeilen aus: »Ich bin nicht euer Hans-Otto«, oder: »Halten Sie Geist für waschbar?« Oder: »Auch Mörder benutzen Mundwasser«. Kaum guckt das lyrische Ich dieser Lyrik, zusammen mit ihrem Autor Eckard Sinzig, in eine mexikanische Zeitung, erblickt er programmatisch das Foto eines Rekordrauchers, der mittels herausgebrochener Zähne und aufgespleißter Mundwinkel achtzig Gipszigaretten in seinem Kopfbereich freihändig unterbringt. Da empfindet einer Sympathie für Amokläufer, bewundert die Schönheit von Einschußstellen, hat das Zeug zum Massenmörder und sitzt brav auf seinem Geranienbalkon; da ist einer Nihilist und kämpft hierbei mit einem bäurisch gesunden Appetit. / Ulrich Holbein, karawa.net
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