101. Bilder hören

Er pokert hoch im Einsatz von Wahrnehmungen und handwerklichen Mitteln, und meist gewinnt er – und manchmal wunderbar. (…)

«Wer sehen kann, kann sehen», kommentiert die Zeile und sagt, dass das Gedicht im guten Fall Dinge zeigt, die eben noch nicht gesehen worden sind. Auch das Gedicht «Anemone» spielt mit der Hyperrealität des beobachtenden Empfindens: «die Blumen sind Frauen / kleidsam an Nachmittagen / sehe ich sie aufgehen, bevor ich / mich ihnen nähern kann // ihren Knospungen». Dann stehen sie «über den Dingen / auf dem Küchentisch z. B. / wie hin und her gerissen / sie mich haben, die Blumen // von denen ich nicht kosten kann».

Das erstaunlichste Kapitel ist vielleicht «Figurationen»; eine Galerie von hingetupften, schönen, schrägen Porträts: die Tagesmutter («im Sommer / muss man alle Mütter gut giessen»), die Alleinstehende, die Schattenschwestern, der Tanzbär, ein Mann aus Kuwait-City, der auf eine Frau wartet. Eröffnet wird die Galerie von der Geliebten: «manche nannten sie eine perfekte / Fälschung aus der Werkstatt von Delft / dabei kam sie aus Andalusien: / sie war reine Poesie ohne Sprache / wahre Musik ohne einen Ton // [. . .] wenn sie sich singen liesse, dann / in einem Chorwerk von Pergolesi». In den schönsten Passagen dieses Buchs wird, wer hören kann, Bilder hören. / Angelika Overath, NZZ

Tom Schulz: Innere Musik. Gedichte. Berlin-Verlag, Berlin 2012. 92 S., Fr. 29.90.

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