120. Kreuz und Phallus

Blasphemische Anwandlungen befallen den in Religionsfragen* sonst** ehrfürchtigen*** Dichter****, wenn es um Sexualmoral, Lust- und Liebesverbote aus priesterlicher Warte geht. Das berühmte ‚Tagebuch‘ von 1810 feiert zwar die eheliche Treue, aber es zeigt, dass ihr Unterpfand eine ‚Neigung‘ ist, die sich mit ‚Begierde‘ verbindet. Als der Ich-Erzähler seine Braut vor den Altar führt, da kann er sich einer Erektion nicht erwehren: ‚Vor deinem Jammerkreuz, blutrünstger Christe, / Verzeih mir Gott, es regte sich der Iste.’† Zwei Verse, denen man auch theologisch nachlauschen darf: Ist der blutrünstige Christus am Kreuz vielleicht gar nicht identisch mit dem Gott, der hier um Verzeihung gebeten wird? Und stehen hier nicht zwei Menschheitszeichen gegeneinander: das Kreuz und der Phallus? Die Diagnose von Goethes Heidentum bekäme einen handfesten Charakter in so einer religionsgeschichtlichen Lesart.

Unterstützt wird sie durch ein anderes Gedicht, das aus dem Kellerdüster der Fußnoten- und Variantenapparate erst 1990†† gehoben wurde, in Band 3.2 der ‚Münchner Ausgabe‘. Es handelt sich um ein ‚Venezianisches Epigramm‘, das 1790 nicht zu veröffentlichen gewesen wäre. ‚Sauber hast du dein Volk erlöst durch Wunder und Leiden / Nazarener‘, hebt es an, und böser wurde das Wort ’sauber‘ selten verwendet. Es geht um den Fluch der Geschlechtskrankheiten, mit denen Gottes Schöpfung die Menschen geschlagen hat.

/ Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung 18.12.

*)

Ob der Koran von Ewigkeit sei?
Danach frag ich nicht!
Ob der Koran geschaffen sei?
Das weiß ich nicht!
Daß er das Buch der Bücher sei,
Glaub ich aus Mosleminenpflicht.

Daß aber der Wein von Ewigkeit sei,
Daran zweifl‘ ich nicht;
Oder daß er vor den Engeln geschaffen sei,
Ist vielleicht auch kein Gedicht.
Der Trinkende, wie es auch immer sei,
Blickt Gott frischer ins Angesicht.

**

Beruf des Storches

Der Storch, der sich von Frosch und Wurm
An unserm Teiche nähret,
Was nistet er auf dem Kirchenturm
Wo er nicht hingehöret?

Dort klappt und klappert er genug,
Verdrießlich anzuhören;
Doch wagt es weder Alt noch Jung
Ihm in das Nest zu stören.

Wodurch – gesagt mit Reverenz –
Kann er sein Recht beweisen,
Als durch die löbliche Tendenz
Auf’s Kirchendach zu ……..

***)

Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
..Duld‘ ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider;
..Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und †.

****)

Vom Himmel steigend Jesus bracht‘
Des Evangeliums ewige Schrift,
Den Jüngern las er sie Tag und Nacht,
Ein göttlich Wort, es wirkt und trifft.

Er stieg zurück, nahm’s wieder mit;
Sie aber hatten’s gut gefühlt,
Und jeder schrieb, so Schritt für Schritt,
Wie er’s in seinem Sinn behielt,

Verschieden. Es hat nichts zu bedeuten:
Sie hatten nicht gleiche Fähigkeiten;
Doch damit können sich die Christen
Bis zu dem Jüngsten Tage fristen.

† Auch ich zitiere gern aus dem Gedächtnis, aber manchmal fällt mir dann was auf. Bei Goethe steht ein „s“ mehr: „Verzeih mir’s Gott“. Mir ist son „s“ wert und teuer. Steht in der Berliner Ausgabe S. 96 (in der Hamburger fehlt wie das „s“ so das ganze skandalträchtige „Tagebuch“, das hatte der Herr des Hauses gewiß in einer bibliophilen Ausgabe zur Hand).

†† Erst 1990? Wohl kaum. Zwar in der Wüste der Weimarer Ausgabe schwer zu finden, war das Gedicht doch in anderen Ausgaben gut lesbar enthalten. Nicht gerade in der Hamburger, mit der in der Bundesrepublik nach 1945 zwei oder drei Germanistengenerationen ausgebildet wurden, eine „saubere“ Auswahl ad usum delphini, aber zB hier: Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 2: Gedichte und Singspiele II, Berlin und Weimar: Aufbau 1966, S. 131.

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