114. Ein Österreicher

Es ist nicht originell, aber auch mir kommt der Literaturbetrieb anödend vor. In ihm herrschen Fleiß und Industrie und ein bisschen Inspiration, aber so wenig, dass jede Werbeagentur damit zusperren müsste. Die Reklame, die der Betrieb unaufhörlich für seine Produkte macht, ist fast schon so langweilig wie die Produkte selbst. Aber warum sollte ausgerechnet meine Arbeitswelt amüsanter sein als die der meisten Menschen? Immerhin hatte ich ein schönes Erlebnis im Literaturbetrieb. Das war, als sich ein bedeutender deutscher Lyriker einer Polemik ausgesetzt fand und er diesen Skandal mit den Worten kommentierte: Diese Polemik hat entweder ein Trottel geschrieben oder ein Österreicher! Schön daran war, dass der bedeutende Mann die Chance demonstrativ nicht genützt hat, den Trottel mit dem Österreicher prinzipiell zu verknüpfen. Aber dass überhaupt »der Österreicher« ins Spiel kam, hat eine spezifische Ursache: In Österreich gibt es stärker als anderswo noch Restbestände von avantgardistischem Gewissen, zum Beispiel in Form skeptischer Vorbehalte gegen »das Erzählen«, mit dem der Literaturbetrieb sein Publikum bedient. Solche Vorbehalte gibt es auch gegen hochtrabende Lyrik, die das Dichten remythologisiert.

Gewiss gibt es selbst in Österreich den Verdacht, dass der Avantgardeanspruch von heute nur aus der stupiden Nachahmung der Avantgarde von früher besteht. Aber es überleben in Österreich Verlage, die die Fahne der Avantgarde hochhalten. So existiert auch dieses schöne Buch: Nicht dass Herbert J. Wimmer ein frommer Avantgardist, ein Avantgardetraditionalist wäre. Aber der numerische Untertitel seiner Gedichtsammlung 99 Gedichte erinnert an die Bibel der österreichischen Lyrik-Avantgarde, an »vierundvierzig gedichte« von Reinhard Priessnitz. (…)

Wimmers Gedicht höre ich beim Lesen: Für mich ist es, als würden die einzelnen Zeilen durch einen jeweils anderen Kanal eines Tonstudios gespielt werden. Es entsteht eine akustische Kathedrale aus Sätzen, Meinungen, Gefühlen, Geräuschen, aus Glück und Unglück. Es ist die Vergegenwärtigung einer verlorenen Zeit, der man ohne Sentimentalität abringen muss, was an ihr lebenswert war. / FRANZ SCHUH, Die Zeit 52

Herbert J. Wimmer: 
Grüner Anker. 99 Gedichte.
Klever Verlag, Wien 2012
149 S., 16,90 €

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