85. „Lyrikbetrieb und Preisunwesen“

Von Ulf Stolterfoht

Ich schreibe seit zwanzig Jahren hauptberuflich Gedichte und kann seit elf Jahren davon leben. Mittlerweile ist die Familie auf fünf Mitglieder angewachsen, und also können oder müssen jetzt fünf davon leben.

Es war nie mein Ziel, vom Gedichteschreiben leben zu können. Ich hätte es sowieso nicht für möglich gehalten, daß es geht, und jetzt schon so lange einigermaßen gut geht – mit Eltern im Hintergrund, die in Zeiten der Not immer wieder aushelfen, und mit Phasen, in denen man nicht weiß, von was man die Windeln bezahlen soll.

Ich bin sehr stolz darauf, daß ich vom Gedichteschreiben leben kann. Für mich ist es keine schöne Vorstellung, wieder mit Zapfen oder Kellnern anfangen zu müssen. Ich würde es aber schon machen, um weiter schreiben zu können. Daß ich vom Gedichteschreiben leben kann, liegt daran, daß ich jedes Jahr ein Stipendium oder einen Preis bekommen habe, manchmal sogar beides. Sobald sich daran etwas ändert, ändert sich die ganze Situation.

Für Preise muß ich in der Regel nichts tun, für Stipendien bewerbe ich mich. Es gibt allerdings auch Preise, für die man einreichen muß. Das habe ich oft getan. Ich weiß über die Zusammensetzung von Jurys in der Regel nichts. Wenn ich darüber etwas weiß, weiß es jeder andere Bewerber auch. Ich bin einigermaßen freundlich und höflich, und werde von Leuten, die dann irgendwann einmal in einer Jury sitzen, sicher als freundlich und höflich eingeschätzt.

Ich glaube, daß manche Leute, die in Jurys sitzen, denken, daß jemand, der drei Kinder hat und die Art von Lyrik schreibt, vielleicht mal wieder was vertragen könnte. Ich habe keine Vorstellung davon, wie der Betrieb funktioniert. Ich habe Freunde und Bekannte, die wahrscheinlich Teil dieses Betriebes sind. Wenn es ihn gibt, bin ich wahrscheinlich selber ein Teil des Betriebs. Ich war bisher viermal Teil einer Jury, dreimal davon deshalb, weil ich der vorherige Preisträger war. Beim vierten Mal weiß ich den Grund nicht mehr. Ich werde alles daran setzen, in Zukunft nie mehr Teil einer Jury zu sein. Ich war nie Mitglied einer Jury, die über ein Stipendium entscheidet.

Wenn ich weiterhin ein Leben als Gedichteschreiber führen möchte, werde ich auf Preise und Stipendien auch in Zukunft angewiesen sein. Ich bin diesbezüglich allzeit annahmebereit.

Ich freue mich sehr, wenn mich ein Preis ereilt.

Ich freue mich für jede/n andere/n, wenn er/sie ihn bekommt.

Lyrik bedeutet Solidarität.

 

 

15 Comments on “85. „Lyrikbetrieb und Preisunwesen“

  1. Lieber Ulf, du hast immer noch nicht mitgeteilt, wer die andere 2-3 sind, die angeblich in deutschen Landen davon leben können?

    Aufrufe, dass Lyriker, die einem Brotberuf nachgehen, sich bitte nicht mehr an Wettbewerben u.ä. beteiligen sollen, halte ich für dumm. Ich finde gerade, dass solche Leute den „Laden“ aufmischen, weil sie nicht immer die „Kohle“ unbedingt
    brauchen und nicht mit jeder Jury nett umgehen müssen. Macht weiter so (ich mache mit)!

    Außerdem: Es gibt schon einen Literaturbetrieb (nur nicht für Lyriker – denn wozu sollen sich viele Zahnräder um Leute, die sich zusehens nur gegenseitig lesen?).

    Ansonsten: Warum sollen Lyriker solidiarischer sein als andere Menschen (Prosaautoren z.B.)? Das klingt nach einem Spruch von einem Poesiealbum:
    Sei immer treu und redlich und ein Freund von Mensch und Tier…

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  2. Du darfst, wenn Du willst, nicht nur darauf stolz sein, dass Du von Deinen Gedichten leben kannst, sondern auch auf die Qualität Deines Werkes. Es trägt etwas dazu bei, der völligen Verblödung, Verkitschung und Verrohung der Sprachbenutzer etwas entgegenzusetzen. Der letzte Satz Deines Statements hat mich verblüfft. Ich halte diese Äußerung neben meine Betriebserfahrungen und stelle fest: Mir erscheint es weitgehend Wunschdenken zu sein, dass Lyrik Solidarität bedeutet, sofern damit ein deiktisches Moment mit-angesprochen sein soll (bedeuten, i.S.v. hindeuten, hinweisen). In der Sammlung „Sprüche und Zwischenspiele“ eines aus dem Anhaltinischen gebürtigen Aphoristikers steht zu lesen: „Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo einem geflucht wird.“ Du sprichst von einem Sollen, nicht?

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  3. Vielen Dank für diesen klärend sachlichen Text. Preise und Stipendien sind funktional für den Lebensunterhalt und sicher auch für die Motivation, die aus Anerkennung folgt. Also kann es nicht genug davon geben, finde ich, so fraglich Jurys auch teilweise auszeichnen oder vernachlässigen. Die Solidarität der Lyriker ist vorhanden, wenn auch immer als Aufgabe, nicht als Wohlfühlkissen, es kommt auch hier auf das Selbstverständnis der einzelnen an, ob in oder vor Jurys. Was ich nur als Gewinn erkennen kann: dass Dichtung als Ausdruck von Strudeln in Ichströmen sich zu unterschiedlichen Formen gemeinsamen Handelns und multiplen Verwebungen zwischen aktuellen Texten erweitert hat. Die Beteiligten bilden vielleicht auch zu viel Betreibsamkeit aus, kann ich nur bedingt beurteilen. Aber die Grundlage für ein befreiend kooperatives Handeln ist der direkte und kontinuierliche Austausch zwischen den Individuen, zu dem auch deine bewusst eingesetzte Unhöflichkeit gehört, Florian, die erscheint mir ebenfalls wie die Mitfreude für die Auszeichnung anderer als solidarisch.

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  4. höfliches hat seine zeit – wie das gegenteil. danke, ulf! (den ich durch einen literaturpreis persönlich kennengelernt habe) übrigens will ich nicht verhehlen, daß ich florian vossens ausfall wegen des milden urteils sehr wohl auch goutieren konnte.

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  5. Lieber Ulf,
    vielen Dank für diesen Text.
    Herzlich Florian

    (der leider lang nicht so höflich ist, in dieser literarischen Welt)

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  6. lieber ulf, ich bin derzeit in verschiedenen gremien, unter anderem im beirat der kulturstiftung sachsen, die über stipendien entscheiden, und war auch in verschiedenen jurys. ich mache das nicht, weil es spass macht und auch nicht weil es sonderlich viel einbringt. die aufwandsentschädigungen sind lächerlich und mit regionalzügen kann ich frei fahren. ich glaube, ich mache es, weil ich einigerma0en integer bin und glaube, dass autoren (nicht nur lyriker) gefördert werden müssen, und weil andernfalls gestimmte arbeiten nicht entstehen könnten. arbeiten, die ich für schön und wichtig halte, und weil ich auch weiß, das einige kolleginnen und kollegen vor die hunde gehen würden, wenn sie nicht hin und wieder die möglichkeit erhielten, intensiv und ausschließlich sich der kunst widmen zu können.(noch ist ein lebenssicherndes grundeinkommen in weiter ferne, und auch preise sind mehr als ehrennadeln und verbeugungen und natürlich sind die juryarbeiten von den positionen der juroren abhängig, die entscheidungen subjektiv und manchmal ungerecht. ich hab mich auch inzwischen dran gewöhnt, dass jurymitglieder angefeindet werden (ich hab ja früher selbst immer mitgewettert) und natürlich mache ich die juryarbeiten auch, um sachen durchzusetzen, die ich für gut und wichtig halte, und weil ich denke, dass adorno sich in den arsch gebissen hätte, wenn er gewußt hätte, dass sein satz vom richtigem leben im falschen zum sprichwort werden würde, und weil ich meine, dass er ein arsch gewesen wäre, wenn er sich in diesem wissen nicht hinein gebissen hätte. gruß nach schöneberg

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  7. Lieber Ulf,
    „Lyrik bedeutet Solidarität“ – eine gewagte These. Ich predige zwar auch immer Solidarität, aber gerade bei Lyrikern habe ich sie selten erlebt. Lyriker sind Egoisten. Ich wünsche Dir jedes Jahr ausreichend Preise und Stipendien, leider bin ich im Moment nur in einer Jury 😉 Und ich würde mir bei manchem Dichter wünschen, der genügend Geld mit anderen Jobs verdient, dass er sich nicht (mehr) für Preise und Stipendien bewirbt. Nebenbei bemerkt, geht es in Jurys nicht immer nur um Qualität, davon könnte ich ein Liedchen singen, aber als Juror sollte man das ja nicht unbedingt. Also: „Lyrik bedeutet Solidarität“, und darunter fällt auch der Verzicht auf Bewerbungen, wenn man einen gut gefüllten Geldbeutel hat.

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    • ne, nur jene lyriker, die DU kennengelernt hast, sind wohl egoisten. armer narr – es gibt ganz andere szenen! und DEN betrieb sowieso nicht, das geht an ulf. ich weiß es vom schittko von facebook und von wem ER es hat, weiß ich nicht, aber seitdem steht das gerücht: ES GIBT KEINEN LITERATURBETRIEB. und ich möchte dem hinzufügen, mit verlaub: allerhöchstens betriebsamkeit… und wenig sand im GE-triebe. zu wenig. für floppy disks gibts inzwischen kaum mehr abspielgeräte. ok, ich übersetzt ausnahmsweise für die unpoetischen unter uns: floppy = kritische literatur, geräte = gehirne, die noch SELBST DENKEN. (sinngemäß nach beuys, das war aber das letzte mal, daß ich meine versatzstücke erkläre)

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    • http://www.zeit.de/angebote/poetry-slam/wolf-hogekamp

      ein schönes beispiel ist die sogenannte SLAMILY. das ego wird zwar auf der bühne gefüttert („the show is just the show“), aber im backstage herrscht SOLIDARISCHE partystimmung. ich mache da zwar schon lange nicht mehr mit, aber ich habs selbst erlebt und es war großartig! natürlich ist es geschmackssache, ob man „slampoetry“ als LITERATUR durchgehen lässt, genauso wie andersrum, inwiefern ein tranströmer jemandem was zu sagen hat. auch da sollte weder dogma noch tabu herrschen, denn es kommt der tag, an dem auch ein slamer den nobelpreis gewinnen könnte!

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    • nee, herr kehle, einen anderen job darf mensch als lyriker_in natürlich keinesfalls haben. und bei preisen gehts ja auch nur ums geld. ich reiche demnach künftig, sollte ich doch noch die unverschämtheit besitzen, mich um einen preis zu bewerben (die letzten beiden bekam ich zugesprochen ohne bewerbung, bin ich damit entschuldet?), einen gleichzeitigen antrag auf spenden des monetären ertrages an den/die lyriker_in mit den geringsten mitteln ein, auf basis der datenbank lyrikereinkünfte 2011. einhergehende minimale aufmerksamkeit wird rationiert und nach und nach online fahren gelassen.

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      • @amateur: warum anonym.

        @ matthias kehle: hallo matthias, ich habe einen sog. brotberuf, weil das, was ich durch lyrik einnehme (honorare oder gelegentlich stipendien) in meinem fall niemals reichen würde, um meine ebenfalls fünfköpfige familie hier in münchen durchzubringen (deshalb hier meine aufrichtige und erfreute gratulation an ulf stolterfoht, dass es ihm möglich ist). nun müsste ich, folgte ich Deiner vorstellung, aus dem umstand heraus, dass ich mit meinem gehalt halbwegs über die runden komme, aus solidaritätsgründen auf bewerbungen um preise und stipendien verzichten. einmal davon abgesehen, dass ich das lyrik-geld hin und wieder trotzdem sehr dringend nötig habe, hieße das ja, grundsätzlich von der möglichkeit ausgeschlossen zu sein, auf dem weg eines preises/stipendiums eine gewisse anerkennung zu erfahren. oder mir zeit freizukaufen, weil auch ich »vor die hunde gehen würde[], wenn [ich] nicht hin und wieder die möglichkeit erhielte[], intensiv und ausschließlich [m]ich der kunst widmen zu können« (s.u.). aber auch jemand, die/der vielleicht wirklich gut verdient oder gar vermögend ist, hat moralisch das gleiche recht zur teilnahme wie jede/r andere.

        anders wäre es, wenn die preise ausdrücklich als unterstützung für finanziell besonders schwach gestellte autor/inn/en ausgeschrieben wären. das ist aber in der regel nicht der fall (und falls es für die vergabe relevant wäre: ich habe bei bewerbungen um stipendien nie meinen beruflichen status verschwiegen). daher bitte ich Dich, Dein verdikt mangelnder solidarität in solchen fällen zu revidieren. solidarität hat asmus trautsch sehr treffend umrissen.

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    • hallo herr kehle, kurzes nachfragen: woher kommt das wissen darum, ob jemand – wenn angegeben – „genügend“ geld in seinem brotjob verdient – ist das zumeist nicht eher eine annahme, eine, die eben fehlgehen kann? ob bewerber oder bewerberin x nun nur halbtags arbeitet, arbeiten kann, an einer seit monaten unsteten auftragslage nagt, wieviel er oder sie letztlich verdient, was davon zu bestreiten ist, lässt sich doch kaum von außen bestimmen. dieses genügend erschließt sich mir also nicht, stimmt mich skeptisch. möglich ist auch, dass jemand versucht, sich unbezahlten urlaub zu verschaffen, um (weiter)schreiben zu können. per se würde ich davon ausgehen, dass – egal was nun wie gearbeitet wird – es nicht die raffgier ist, die die bewerbung um einen preis, um ein stipendium abgesetzt hat. und auch ohne das bedenken etwaiger umstände, hat jeder grundsätzlich das recht, an wettbewerben teilzunehmen. // ob jemand btw. egoistisch oder solidarisch ist, hat meines erachtens nichts damit zu tun, ob er/sie lyriker/lyrikerin ist. vielleicht hab‘ ich da aber auch gerade zuviel blumen im haar: nach meinem verständnis sind das persönlichkeitsstukturen, die weder im schreiben noch in bestimmten berufen per bestimmungshandbuch einzufrieden sind.

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