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„Aus urheberrechtlichen Gründen dürfen wir Beiträge in diesem Bereich nur noch sieben Tage lang anbieten.“
Diese Notiz findet sich seit kurzem auf der Website des DLF-Lyrikkalender. Das hört sich an wie Lüge / Und ist es auch (Jandl). Sowenig wie Gesundheitsgründe für den Rücktritt Erich Honeckers vor 21 Jahren verantwortlich waren, ist es hier das Urheberrecht. Nicht das Recht von Horst Samson oder Michael Braun wird hier geschützt! Bekanntlich gab es einen Bundestagsabgeordneten, der Cummings las und Baudelaire übersetzte, Keetenheuve hieß er und sprang in den Rhein. Nein, die Lyriker haben keine Lobby in der deutschen Politik; Energiekonzerne haben eine, Pharmaziebetriebe oder Zeitungsverleger. Die großen Zeitungsverleger suchen lange nach Wegen, „Content“ im WWW gegen Geld zu verkaufen. Denen paßte es nicht, daß die öffentlich-rechtlichen Sender abertausende von unseren Gebühren finanzierter Sendungen kostenlos im Internet zur Verfügung stellten. Das steht ihren Plänen entgegen, und willfährige Politiker änderten das Rundfunkrecht, was zur Löschung vieler tausender Hör- und Videobeiträge führte, vor wenigen Wochen und über Nacht. Einer der vielen Skandale der deutschen Politik – fast ein kleinerer. „Daß sie lügen, wußte ich ja. Aber / daß sie so lügen!“ (Peter Hacks)
P.S. Man macht mich darauf aufmerksam, daß die Notiz beim Lyrikkalender schon länger steht. Ja, mag sein, daß es in diesem Fall so ist, ich kann es nicht beschwören. Meine Empörung bleibt: sie gilt der von der Politik im Interesse der Privatwirtschaft („Wettbewerbsrecht“!) angeordneten Löschung tausender archivierter Rundfunk- und Fernsehsendungen am 1.9. Lesen Sie mehr unterm Strich.
Aus einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 26.8.:
Kompliziert und bürokratisch: Nach den neuen Regeln müssen die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF bis zu 70 Prozent ihrer Online-Inhalte löschen.
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Das gilt insbesondere für das sogenannte Verweildauerkonzept, also für die Frage, wie lange Inhalte in Zukunft im Netz stehen dürfen: tägliche TV-Serien aus dem Programm des Ersten müssen nach sieben Tage verschwinden, wöchentliche nach sechs Wochen. Die Inhalte von Politmagazinen werden nach maximal zwölf Monaten gelöscht, kultur- und zeitgeschichtliche Dokumente haben das ewige Leben. …
Auf der Suche nach einem möglichst eindringlichen Beispiel berichtet der ZDF-Mann, dass gerade erst der O-Ton von Josef Ackermann aus der ZDF-Mediathek geflogen sei, in dem der Deutsche Bank-Chef im Mai bei Maybrit Illner daran gezweifelt habe, ob Griechenland jemals seine Schulden zurückzahlen könne. Nach drei Monaten ist für Videos der Kategorie Gesprächssendung das Ende gekommen. Gaddum sagt, 91 Prozent der ursprünglich vorhandenen Dokumente von heute.de seien mittlerweile „depubliziert“ worden.
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Fragt man sich durch die Anstalten, welche Inhalte aufgrund des „Verweildauerkonzeptes“ entfernt wurden, wird man geradezu unter Zahlen begraben: Der BR meldet 69 Prozent des Gesamtinhaltes, darunter überwiegende Teile der Bildungsangebote, Dokumentationen und Reportagen. Der HR gibt eine Löschquote von 58 Prozent für hr-online.de an, bei boerse.ARD.de seien es 72 Prozent gewesen. Beim RBB heißt es, allein im Angebot des Portals kulturradio.de gingen 80 Prozent der Rezensionen von Filmen, Büchern und CDs offline, die älter als zwölf Monate seien. Der SR listet auf: Unter sr-online.de seien in der Rubrik Kultur nur noch sieben Prozent der Inhalte verfügbar, im Sport noch 15 Prozent.
Die Lobby ist immer noch nicht zufrieden:
Die Verlags-Lobbyisten verweisen auch jetzt weiter auf die prall gefüllten Seiten tagesschau.de oder heute.de und auf gebührenfinanzierte Apps. Wolfgang Fürstner, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Deutschen Zeitschriftenverleger, sagt: „Wenn das Ergebnis eine gebührenfinanzierte Onlinepresse ist, dann sind die für die Medienpolitik verantwortlichen Bundesländer angesprochen.“ Eine Klage sei nicht ausgeschlossen. Auch für Dietmar Wolff, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger, hat sich an der Lage nichts geändert: „Das Kernproblem bleibt weiter bestehen.“
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