98. Spezialistin für andauerndes Verliebtsein

Bei Else Lasker-Schüler aber ist es wohl richtig, wenn Decker behauptet, sie habe nur ‚verschiedene Realitätsgrade‘ gekannt. Für einen Menschen, der in seiner eigenen Phantasiewelt lebt, ist Realität tatsächlich ein untergeordneter Begriff. Als Spezialistin für andauerndes Verliebtsein, die auf diesen Gefühlszustand angewiesen war, um zu Gedichten zu gelangen, musste Lasker-Schüler zwangsläufig die Realität zugunsten der Fiktionen überschreiten. Aber was heißt dann schon Realität.

Wie anstrengend es ist, so zu leben, nicht nur für die Dichterin selbst, sondern auch für die Menschen um sie herum, das lässt sich mit Kerstin Deckers einfühlsamer Lasker-Schüler-Biographie sehr gut nachvollziehen. ‚Mein Herz – Niemandem‘ ist ein Roman über eine Frau, die von ihren Freunden als ’neurasthenische Sappho‘ bezeichnet wurde, während Gershom Scholem sie 1934 in Jerusalem nur noch als ‚Ruine‘ betrachtete, ‚in der der Wahnsinn weniger haust als gespenstert‘. Kerstin Decker macht beides deutlich – Verzauberungspotential und Wahnsinn -, und erfindet eine Figur, die vielleicht so oder so ähnlich wirklich gewesen ist. / JÖRG MAGENAU, SZ 11.8.

KERSTIN DECKER: Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker- Schüler. Propyläen, Berlin 2009, 476 Seiten, 22,90 Euro.

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