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Veröffentlicht am 3. August 2010 von lyrikzeitung
Nietzsche ist eine der beiden Portalfiguren, die der Dichter Wulf Kirsten an den Beginn seiner großen Anthologie zur deutschen Lyrik zwischen 1880 und 1945 gestellt hat. Und ohne Zweifel wird hier ein neuer Ton angeschlagen. Aber das Instrument ist die in der klassischen Literatur der Deutschen gebildete Sprache, daran erinnert das Echo des vorangestellten Genetivs. Die andere Portalfigur ist Detlev von Liliencron, der als Rezitator mit seinen Gedichten durch die Vortragssäle zog und hier vor allem in den reimlosen Versen des Gedichts ‚Auf einem Bahnhof‘ (1890) den Blick auf die technisch-industrielle Moderne freigibt, in der die ästhetische Moderne als ihr Ausdruck und Widerpart groß wurde: ‚Der neue Mond schob wie ein Komma sich / just zwischen zwei bepackte Güterwagen.‘
Das Komma ist gut gesehen, es lässt den alten Begleiter, den bewährten Gedankenfreund der deutschen Poesie, den Mond, auf die Welt der Büros und Kanzleien scheinen, und kontrastiert seinen Lauf mit der verwaltungsgestützten Beschleunigung des modernen Lebenstempos: ‚Ein Bahnbeamter mit knallroter Mütze / schoß mir vorbei mit Eilgutformularen.‘ Man muss, hat man die beiden Portalfiguren passiert, ein wenig innehalten und zurücktreten, um das Riesengebäude dieser Anthologie ins Auge zu fassen, ehe man es betritt. / LOTHAR MÜLLER, SZ 26.7.
WULF KIRSTEN (Hrsg.): ‚Beständig ist das leicht Verletzliche‘. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan. Ammann Verlag, Zürich 2010. 1120 Seiten, 79,95 Euro.
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Anthologien, Detlev von Liliencron, Friedrich Nietzsche, Lothar Müller, Wulf Kirsten
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