86. Ich will nicht interpretiert werden

Wolfgang Rihm über ‚Dionysos‘, seine neue Oper nach Friedrich Nietzsche, die die Salzburger Festspiele eröffnet

Rihm, Jahrgang 1952, gleicht einem kreativen Vulkan, der beständig neue Stücke in die Welt setzt, der altes immer wieder neu fasst, der mit seinen Opern ständig neue Herausforderungen an die Regisseure vorlegt. Für ‚Dionysos‘ hat Rihm auf Friedrich Nietzsches ‚Dionysos-Dithyramben‘ zurückgegriffen, Texte, die den Komponisten schon seit Jahrzehnten begleiten.

SZ: War die Vertonung von Antonin Artauds ‚Séraphin‘ die Voraussetzung, dass ‚Dionysos‘ entstehen konnte?
Rihm: Nein. Oder: alles ist Voraussetzung. Die Grundlage sind die ‚Dionysos-Dithyramben‘ von Nietzsche, in die ich sozusagen einen Text hineinlese – aus denen ich einen Text herauslese. Ich drücke es so aus: Das Libretto ist von mir, jedes einzelne Wort ist von Nietzsche.
SZ: Aber der Zuschauer weiß davon nichts. Was kann er, der in Stoff und Text nicht vorbereitet ist, verstehen?
Rihm: (ungeduldig werdend) Man muss nichts erklären, ich will nichts erklären. Sobald man damit anfängt, ist man bei dieser Oberlehrerhaltung, bei diesem ständigen Hinweisen und Besserwissen. Ich mache Kunst, ich weiß nichts besser . . . Anscheinend haben Generationen von Komponisten ein Bild in die Öffentlichkeit gestellt: des mit erhobenem Zeigefinger vorm Publikum Stehenden, der alles besser weiß. Ich bin jemand, der es nicht besser weiß, und deswegen mache ich Kunst. Ich mache nicht Kunst, weil ich“s weiß, sondern weil ich“s eben nicht weiß. Und dieses heilige Nicht-Wissen, das ist meine Begabung. Ich bin nicht geschlagen mit einem Nicht-Wissen, ich bin begabt mit dem Nicht-Wissen-Können.
SZ: Kehren wir noch einmal zu den Texten zurück.
Rihm: Die ‚Dionysos-Dithyramben‘ sind Texte, die mich mein ganzes schöpferisches Leben begleiten. Nicht weil sie vollendet sind, sondern weil sie im Moment des Entstehens, des Gesprochenwerdens, Plötzlich-Gesagt-Seins, des inspirierten Aussprechens stehen. Es sind Texte, die nicht den Anspruch einer absolut hermetischen, dichterisch festgezurrten Oberfläche haben, eine Tiefenstruktur, die vollkommen in sich aufgeht, sondern ich erlebe das als die Äußerung eines konzeptuellen, eines entwerfenden dichterischen Wollens. Es ist ein dichterischer Text, der von jemandem stammt, der für sich das Dichterische wünscht – der ahnt, dass er es nicht ganz realisiert, aber der weit darüber hinausgeht. Der entwirft seinen Entwurf. Wir können ihn auffangen.

Interview: Wolfgang Schreiber und Bettina Ehrhardt

/ Süddeutsche Zeitung 13.7.

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