82. Erfindung des Surrealismus

Wer auf die »Fatrasien« stößt, traut seinen Augen nicht. Wie kann es sein, dass diese surrealistisch anmutenden, erstaunlich modern wirkenden kurzen Sprachspektakel im fernen Mittelalter entstanden sind? Eine tollkühne Fantasie hat hier Dinge zusammengebracht, die nie und nimmer zusammengehören. …

Die Fatrasie ist ein kurzes Gedicht mit elf Versen. Die Zahl Elf bedeutet mehr als zwei Handvoll und weniger als ein Dutzend. Sie symbolisiert ein Zuviel und Zuwenig. Sie ist ein Signal für Verrücktheit und närrisches Treiben…

Fünfundfünfzig anonyme Stücke – natürlich ist die Zashl durch elf teilbar – kommen aus der nordfranzösischen Stadt Arras. … Die Stadt war früh eine experimentierende Metropole der Dichtkunst, die sich neben Paris nicht zu schämen brauchte. …

In ihrer frühen, entfesselten Radikalität stehen diese französischen Gedichte einzigartig da. In siebenhundert Jahren wurden sie noch nie ins Deutsche übersetzt. Es geschieht hier zum ersten Mal, als Versuch, eine bislang unbeachtete Wurzel der modernen Poesie und der absurden Literatur freizulegen. … Letztlich ist die Fatrasie der offenbarte Spieltrieb der Sprache, die sich selbst mit allen Mitteln zum Jubeln bringt. / Ralph Dutli, FAZ 17.7. (der ganzseitige Artikel enthält zeitgenössische Abbildungen und – unverständlicherweise – 10 und nicht 11 Proben dieser Dichtung).

Hier als Probe die Fatrasie 23:

Der Furz einer Käsemade
wollte in seinem  Käppchen
Rom davontragen.
Ein Ei aus Baumwolle
nahm den Schrei
eines Ehrenmannes beim Kinn.
Der Gedanke eines Spitzbuben
hätte ihn schließlich fast verprügelt,
als ein Apfelkern
ganz laut ausrief:
„Woher kommst du? Wohin geht’s? Welcome!“

Dutli, Ralph
Fatrasien
Absurde Poesie des Mittelalters
Einleitung von Dutli, Ralph
Verlag : Wallstein
ISBN : 978-3-8353-0774-2
Einband : gebunden
Preisinfo : ca. 19,00 Eur[D] / ca. 19,60 Eur[A] / 31,90 CHF UVP
Seiten/Umfang : ca. 144 S.
Produktform : B: Einband – fest (Hardcover)
Erscheinungsdatum : 08.2010

Eins der im FAZ-Artikel enthaltenen Proben hier alt- und neufranzösisch:

Uns ours emplumés                        Un ours emplumé
Fist semer uns bles                        Fit semer du blé
De Douvre a Wissent.                     De Douvre’ à Wissant.
Uns oingnons pelez                        Un oignon pelé
Estoit aprestés                              S’était apprêté
De chanter devant.                        A chanter avant.
Qant sor un rouge olifant                    Quand sur un rouge éléphant
Vint uns limeçons armés                      Vint un limaçon armé
Qui lor aloit escriant :                         Qui marchait en leur criant :
« Fil a putain, sa venez !                     « Fils de putain, approchez !
Je versefie en dormant. »                    Je versifie en dormant. »

Einige Originaltexte

Wikipedia

« Fatras et fatrasie » sur le site oulipien Fatrazie

Article de Patrice Uhl « „Fatras“ et „fatrasie“ : un imbroglio étymologique et typologique », université de la Réunion


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