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Ein Geist, der bei Wosnessenski, wie jedem wahren russischen, sowjetischen Dichter von Liebe zum Land erhitzt und zugleich von den stalinistischen Praktiken zerfrostet wurde. Das ewige Wechselklima. Die Tapferkeit des Aushaltens. Die Sinnwidrigkeit der Kulturpolitik, aber im Dichter die trotzige Energie des obsiegenden Hintersinns. Auch Wosnessenski erfuhr das Urteil, wie ein Feind im eigenen Staat zu leben, als Amerikanist zu gelten. War der Nestbeschmutzer, der im Hass der Bürokraten aber einer blieb, der im Schmutz der Wirklichkeiten weiter ein Nest baute, für eine Literatur des visionären sozialen Gesprächs.
Wosnessenski, der Versdramatiker (»Antiwelten«, in Moskau über 700 mal aufgeführt), der moderne Jessenin-Erbe, der Pasternak-Freund – er war Architekt (wie Max Frisch), ein Utopist auch da: Er entwarf zum Beispiel ein goldenes sechsstöckiges Kugelhaus, das nur durch den Luftstrom aus gewaltigen Kompressoren über der Erde gehalten wird.
Die kosmopolitische Welthaltigkeit seiner Poesie schlug sich gern in lyrischen Reisereminiszenzen, in gereimten Freundschaftsadressen und Gedenkversen sowie in alexandrinischen Paraphrasen über Themen klassischer Litereturwerke nieder. Gedichttitel wie biografische Wegweiser: Auf den Tod Pasolinis. Newyorker Abzeichen. Striptease. Italienische Garagen. Gangster. Es sang im nächtlichen Florenz Twardowski. Ophelias Lied. Michelangelos Gebet. In letzterem Werk die Zeilen: »Verse sind papierne Merkzeichen/ im Leben, das vergangen ist.« Eines seiner eindringlichsten Gedichte: »Der Ruf des Sees«. Auf dessen Grund Reste eines jüdischen Gettos, ein Grab der Ermordeten. Ein ukrainischer Badesee heute. / Hans-Dieter Schütt, ND 3.6.
Weitere Nachrufe: New York Times / Stimme Rußlands / Rußland aktuell / Guardian 3.6.
Mehr: Books: When Poets Rocked Russia’s Stadiums (June 3, 2010 New York Times)
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