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Veröffentlicht am 2. Mai 2010 von lyrikzeitung
Auch ein Kabarett das sich „Roland von Berlin“ nannte, öffnete 1904 seine Pforten in der Potsdamer Straße.
Der Autor des Gedichtes „Strassenreiniger“ allerdings ist ein anderer. Der dieses Pseudonym für sich benutzte, war der Dichter und Flaneur Leo Leipziger. Im Januar 1896 flanierte er durch Paris, stieg die Stufen zu einem Kellerlokal hinab, weil in dem etwas Unbekanntes geschah: lebende Fotografien! Aus dem Cinématographen der Gebrüder Lumière. Leipziger war sofort fasziniert. Nur wenig später, im April schon, lud er zur ersten Filmvorstellung in den Isolatograph Unter den Linden 21 ein. Der jüdische Rechtsanwalt und Schriftsteller, hatte, unabhängig von den Gebrüdern Skladanowsky, die bereits mit ihrem Bioscope lebende Bilder im „Wintergarten“ gezeigt hatten, das Kino in seine Heimatstadt Berlin gebracht und deshalb kennt man heute Leo Leipziger (1861–1922) eher in der cinematographischen Fachliteratur, als in der schöngeistigen. Er gab seit 1903 eine Zeitschrift gleichen Namens heraus und textete satirische und zeitkritische Gedichte und ebensolche Lieder, unter anderem auch für Claire Waldoff, die ihre Karriere aus dem kleinen Figaro Theater der Olga Wohlbrück (am Kurfürstendamm) ins Kabarett in der Potsdamer verlegt, in den „Roland von Berlin“. Sie steht dort im Hosenanzug auf der Bühne und singt Texte von Paul Scheerbart und die Zensur zeigt ihre Muskeln. Ein Skandal droht – eine Frau in einer Hose sagt, was Sache ist! unduldbar! – man komponiert rasch ein anderes Liedchen und kleidet sich nett und wallend und alles geht gut. Waldoff wird zum „Sternchen von Berlin“.
Das Gedicht „Strassenreiniger“ muß um 1905/07 herum entstanden sein und hat überlebt, weil um diese Zeit Maximilian Bern sich anschickte genau diese „Brettl-Dichtungen“, wenn man das als Genrebegriff einer vorexpressionistischen, großstadtgewohnten, liedhaften Poesie auffassen wollte, in seiner Sammlung „Die zehnte Muse“ zu dokumentieren. „ … oft übermütige Dichtungen, die sich den pedantisch strengen Grundsätzen der alten neun Musen nicht recht fügen wollen und daher eine neue Schutzgöttin – die zehnte Muse – beanspruchen“, schrieb 1909 der Verlag ins Vorwort. Das Buch etabliert sich rasch, wird zu einer Institution. Ein Freund von Leo Leipziger, der Libretto-Schreiber Georg Okonkowksi, muß im Anschluß sogar bis zur „elften Muse“ aufstocken, für eine Operette von Jean Gilbert, die 1912 in Hamburg uraufgeführt wird und etwa zeitgleich beginnt der renommierte Musikverlag Oscar Brandstetter in Leipzig Noten einer neuen Reihe aufzulegen: Die elfte Muse. Eine Sammlung moderner Cabaretlieder. …
… es hat in Berns seltsamer Anthologie, die zwischen Brettl-Poesie und Vagabundenlied umher wackelt, mancher überlebt, der woanders in Vergessenheit geriet, die Münchnerin Gisa Tacchi beispielsweise, der man Pessimismus nachsagte, weil sie das Graue in der Welt sehen konnte, die Gynäkologin Margarete Beutler, die auch in Ostwalds Dirnenliedern herumberlinerte, um spontan nur zwei Damen zu nennen. 1902 erschien die Zehnte Muse erstmals mit einer Auflage von 6000 Stück im Verlag Otto Elsner (der sich damals just mit seiner „Zeitschrift für Theaterwesen, Litteratur und Musik“ Bühne und Welt aus seiner angestammten Spezialnische Eisenindustrie herauswagte und erfolgreich im Schöngeistigen etablierte) und Bern schob immer wieder erweiterte und umgestaltete Auflagen nach. Die Gedichte des „Roland von Berlin“ bspw. findet man erst ab dem vierundfünfzigsten Tausend von 1910. Die ernste Literaturkritik ignorierte das Buch weitgehend (bis heute), das dennoch sein Publikum fand. Im Jahre 1974 erschien die vorerst letzte Auflage (immer noch im gleichen Verlag) mit dann insgesamt 730 000 Exemplaren. / Frank Milautzcki, cineastentreff (vorher bei Fixpoetry – dort mit dem Text von Leipziger)
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Claire Waldoff, Frank Milautzcki, Georg Okonkowksi, Gisa Tacchi, Jean Gilbert, Leo Leipziger, Margarete Beutler, Maximilian Bern, Paul Scheerbart
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