138. Verliebt

Noch einmal zu Nicholson Bakers „Der Anthologist“. Im heutigen „Tagesspiegel“ schreibt Volker Sielaff:

Wenn Paul nicht an Rosslyn denkt und ihm auch seine attraktive Nachbarin Nan nicht über den Weg läuft, kann er endlos über englischsprachige Lyrik monologisieren: „Vier Takte pro Zeile. Das ist der klassische Rhythmus von Poesie wie von Popsongs“, ist Chowder überzeugt. Wer als Leser nicht mit im Takt klopfen möchte, sollte die allzu sehr von einem seminaristischen Furor getragenen Passagen einfach überblättern.

Chowders Stimme ist getragen vom leidenschaftlichen, manchmal auch leidenden Gestus eines die Poesie aufrichtig liebenden Literaturdozenten. Man sieht ihn förmlich vor der versammelten Studentenschaft stehen und im Plauderton seine Verteidigung der Poesie vortragen. In Wirklichkeit aber hat Chowder den akademischen Betrieb nach nur einem Jahr verlassen und sitzt nun die meiste Zeit auf dem Heuboden oder in einem weißen Plastikstuhl vor seinem Haus, beobachtet eine Maus oder sinniert über das tragische Moment im Leben vieler Dichter. Daß ihr Unglück sie kreativ mache, ist eine arg abgegriffene These unseres Helden, der sich auch fragt, warum er sich immer wieder selbst ungewollt kleine Verletzungen zufügt. Warum hat Nicholson Baker sein Buch nicht als Essay, sondern als Roman verfasst?

Eine Antwort könnte die Passage über Elizabeth Bishops berühmtes Gedicht „Der Fisch“ liefern. Nachdem der tödlichen Sauerstoff atmende Fisch von der Dichterin bis hin zum „Mechanismus seiner Kiefern“ beschrieben worden ist,  kommt Bishop auf die „fünf gerissenen Angelschnüre“ zu sprechen.

Es ist beeindruckend, wie Baker seinen Protagonisten sodann die allegorische Bedeutung dieser Bilder für uns entwirren lässt: „Was sind das für Stränge? Die der Poesie. Denn wir ahnen, dass vor ihr schon andere angehende Dichter diesen sehr alten, realen Fisch gefangen haben. Ihre Schnüre sind da, verhakt im Fischmaul, die vielen früheren Versuche, diesen alten Fisch im Gedicht zu reimen.“ Bishop reimt jedoch nicht, sie erzählt uns in lapidarem Tonfall von dem Fisch – bis dorthin, wo sie ihn loslässt und er ins Meer zurückschnellt.

Nicht anders Bakers Blick auf die Poesie. Es ist der Blick eines wahrhaft Verliebten.

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