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Wenn ich im SCARDANELLI lese: »ungewaschen an der Maschine halb 4 Uhr morgens«, oder: »am nächsten Morgen hinauf ins Jubelzimmer wo die Maschine, und der Blick auf die Berge«, dann erinnere ich mich an Hölderlins Homburger Folioheft, in dem er eine Reihe großer Gesänge skizziert hat und das ihm nach der Rückkehr nach Tübingen fehlt, erinnere mich, daß man ihm im Palisadenzimmer der Klinik und noch lange Zeit danach Papier und Stift vorenthält, weil ihn das Schreiben, wie es heißt, zu sehr in Aufregung versetze.
Und ich erinnere mich daran, daß Hölderlin in seiner Verzweiflung einmal in der Werkstatt seines Wirtes nach dem Zimmermannsbleistift greift und rasch einen kurzen Klagegesang auf ein Brett schreibt, als folge er der Maserung des Holzes: »Die Linien des Lebens sind verschieden Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.«
Wenn ich im SCARDANELLI lese: »seitlich den Kopf an dem sprachlosen Lamm das mich schläferte endlich eigentlich Schaafes Locken dessen Schäfer ich war im Traum«, und: »das Lamm wird zum Hirten der Hirte zum Lamm«, dann kommt mir in den Sinn, daß Hölderlin sich, wenn Lotte Zimmer ihn mit aufs Feld nimmt, halbe Tage lang damit beschäftigt, Gras auszureißen, daß seine Hände gewöhnlich schmutzig sind, daß er sich, wie Waiblinger weiter berichtet, einmal im Garten von Conz mit Blumenpflücken unterhält, aber, sobald er einen tüchtigen Strauß beisammen hat, diesen zerreißt und in die Tasche steckt.
Wenn ich im SCARDANELLI lese: »Rinder Schafe und Geiszen welche der Poesie so verwandt, die weich’ Kräuter (Höld.)«, dann werde ich unsicher, in welcher Gestalt das lyrische Ich zu Beginn von Hölderlins »Das fröhliche Leben« spricht: »Wenn ich auf die Wiese komme, Wenn ich auf dem Felde jetzt, Bin ich noch der Zahme, Fromme, Wie von Dornen unverletzt.«
Und ich erinnere mich wieder dreier Zeilen im SCARDANELLI: »Hatte ich im Garten geschuftet Dornen gesät : mir in die Fingerkuppen der rechten Hand Dornen gesät, zerzauster Strauch der sterbenden Nachtviolen neben der schwarzgewordenen Königskerze«.
Wenn ich im SCARDANELLI lese: «die Monstranz der Holunderbaumblüten «, und: »während der Fliederbusch wehte«, und: »sie vermute der Flieder im Schulhof, sie sehe nicht so gut, aber sie habe, es sei I Streifen Fliederfarbe zu erkennen gewesen, nein keine Dolden fliederfarbene Dolden«, dann erinnere ich mich daran, daß »Flieder« auch ein anderes Wort für »Holunder« sein kann, daß der Sambucus nigra Trugdolden ausbildet und aufgrund seiner guten Wirkung auf den menschlichen Körper eine ganze Hausapotheke sei.
Wenn ich im SCARDANELLI lese: »entgegen kam uns I schöner Wanderer mit Alpenhut und einer Blume in seiner Hand wir blickten uns an ohne jedoch einander zu grüssen«, dann kommt mir der Bauernspruch in den Sinn: »Vor dem Holunder soll man den Hut abnehmen.«
Und ich erinnere mich daran, daß die Pflanzen viele Namen haben, die Digitalis ist der Fingerhut, das Leberblümchen ist der Seidelbast, so wie auch Hölderlin viele Namen hat, »Sie sprechen mit Herrn Rosetti«, oder »Scardanelli«, »oder Salvator Rosa, oder so was«, wie er am 27. Januar 1843 nach dem Genuß von Kaffee und einer Zigarre bemerkt, während er in der zweiten Auflage der »Gedichte von Friedrich Hölderlin « blättert: »Ja, die Gedichte sind echt, die sind von mir, aber der Titel ist falsch; ich habe in meinem Leben niemals Hölderlin geheißen.«
Und ich begreife, jener »Wanderer mit Alpenhut« ist »Höld.«, ist »Holder«, ist die Heilpflanze selbst.
Wenn ich im SCARDANELLI wieder an den Anfang gehe: »knallharte Mnemotechnik«, dann weiß ich, daß mir dieser Zyklus immer kostbar sein wird und ich ihn am liebsten als Ganzes memorieren würde.
Aus: Marcel Beyer: Wenn ich im SCARDANELLI lese
Einführung zur Lesung von Friederike Mayröcker, Alte Schmiede, Wien, 20. April 2009
(Der ganze Text hier zum Download)
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