149. Kleine Wunder

Manchmal beginnt der Tag der Dichterin «schlurfend». Die Worte liegen zäh im Mund, und es regt sich die Angst, nie mehr etwas schreiben zu wollen. Dann aber kann schon ein Lächeln im Café genügen – und alles brennt lichterloh. Die «wallende Seele (Brust)» und das «zirpende (zuckende) Auge» schiessen zusammen. Die Luft scheint zu brausen, während das «Schwärmen äuszerster Phantasie» die Sprache des Gedichts hervorbringt, die Tag- und Nachtbilder der Schreibenden.

Wenn Friederike Mayröcker am Schreibtisch sitzt, wollen sogar die Schneefunken im Fenster blühen. Mit leichter Hand formt sie ihren Rhythmus, bis die Buchstaben den Kopf der Dichterin umschwirren. Es ist ein Schreiben, das auf die metamorphotische Kraft der Poesie vertraut, ein Schreiben, dem alles zum Stoff werden kann. Und dieses Schreiben fand von Anfang an Gehör, einerlei, ob bei den Dichtern der Wiener Gruppe oder, später, bei Autoren wie Thomas Kling. Mit ihren weit über siebzig Prosastücken und Gedichten, Hörspielen und Kinderbüchern ist Friederike Mayröcker trotzdem ein Solitär in der literarischen Landschaft geblieben. Sie verdankt der Romantik viel und den eigenen sprachexperimentellen Versuchen, dem Surrealismus und, ein wenig, dem Dadaismus – zu einem festen Bild aber wollte sich ihr Schreiben nie fügen lassen. Ihre «äuszerste Phantasie» speist sich aus einem ganz und gar eigenen Sprach- und Weltbewusstsein, das von der Euphorie des Schreibens ebenso weiss wie vom «gerissenen Faden der / modernen Narration».

Die neuen Gedichte sind noch rhythmischer in ihrem Hang zur langen Zeile und zu Wiederholungen, fast litaneihaft muten manche der Verse an. Sie zeigen die «verborgene Sprache» des Gedichts und Friederike Mayröckers melancholisch durchsträhnten Ton. …

Aus Hölderlins berühmtem Bild «Im Winde / Klirren die Fahnen» etwa wird bei Mayröcker eine «klirrende Sonne», die durch das «Gewölb der Wipfel» stäubt. Bisweilen variiert sie auch ganze Gedichte und knüpft die einzelnen Verse über Zitate Hölderlins zusammen. An einer Stelle umreisst sie ihre Schreibart selbst: «1 Looping / ohne der Worte Sinn zu kennen».

… kleine Wunder sind Friederike Mayröckers Gedichte allesamt. / Nico Bleutge, NZZ 24.12.

Friederike Mayröcker: dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif. Gedichte 2004–2009. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2009. 356 S., Fr. 39.50.

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