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Kurz vor Kriegsende, im Mai 1945, herrschten in Schleswig-Holstein unbeschreibliche Zustände; das kleine Land war überfüllt mit Soldaten und Flüchtlingen. Bei Wilhelm Lehmann in Eckernförde war eine schwangere Frau aus Ostpreußen untergebracht. Als es so weit war, sei er ins Nachbardorf geeilt, um die Hebamme zu holen. Unterwegs überkam es ihn dann – die sommerliche Natur triumphierte über das vom Menschen angerichtete Chaos: „Als ich die vertrauten Wege lief, bemächtigte sich meiner die getroste Glorie des hellen Junitages. Der Wind, uns meist befeindet, hatte sich gelegt. Eine grüne Pastorale tat sich auf. Die Wesen riefen: ‚Wir sind auch noch da!‘ Im Schutz eines Steinbruchs breitete sich ein weißes Beet samenden Wollgrases; Spindeln, Rocken gleich, ragten die Stängel. Der Roggen blühte, der Sand wärmte. Der fade Todesernst setzte aus, eine Ordnung gegen alle Unordnung drang durch…. Ich eilte, aber ich hastete nicht.“
Lehmann erzählte dieses Erlebnis 1961 im Rahmen seiner Münchner Poetik-Vorlesung über die Entstehung von Gedichten. Leider ist nicht überliefert, wie der Vortrag bei den Zuhörern ankam. Zwar befand sich Lehmann, als Dichter ein Vertreter der „Inneren Emigration“, zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Doch stand die Naturlyrik bereits unter Ideologieverdacht, zumal unter der jüngeren Generation. Bertolt Brechts Klage, dass ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen geworden sei, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt, war längst ein geflügeltes Wort. Der junge Peter Rühmkorf etwa höhnte über die lyrische „Utopie aus dem Blumentopf“, die bei dem nach Sinn und Vergessen suchenden Publikum der 1950er-Jahre so beliebt war. …
Wilhelm Lehmann wurde in der jungen Bundesrepublik als „Nestor der deutschen Lyrik“ gehandelt, als Kopf einer „naturmagischen Schule“. Doch war er, wie seine Rezensionen, Glossen oder „Gedenkblätter“ zeigen, im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit ein Außenseiter. Für Lehmann blieb der Dichter ein „Seher“, waren „Ergriffenheit und Staunen“ „erzeugender Grund“ einer Dichtung, die dem modernitätsgeschädigten Menschen Heilung versprach. Der Kahlschlaglyrik eines Günter Eich (der Lehmann im Übrigen verehrte) stand er genauso ablehnend gegenüber wie der Gedankenlyrik seines Antipoden Gottfried Benn, wie er einem konsternierten Horst Bienek erklärte. Rilke warf er vor, die Dinge für sein Programm der Verinnerlichung missbraucht zu haben, und dem DDR-Lyriker Peter Huchel, der in Westdeutschland mit Preisen überhäuft und auf eine Stufe mit Hölderlin gestellt wurde, widmete Lehmann eine seiner wenigen Polemiken, in der er Huchel Unanschaulichkeit und mangelnde Präzision bescheinigte. / Oliver Pfohlmann, literaturkritik.de
Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 7, Essays II.
Herausgegeben von Wolfgang Menzel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009.
594 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783608950465
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